151, Teil I: Wendepunkte

151, Teil I: Wendepunkte

München, Januar 2021.

Ich glaubte, meine Worte verloren zu haben. Ich glaubte, es sei vorbei, der Seelenblick, das Teig kneten, formen, backen, genährt werden von eigenen Texten, weil sie in diesem wedgewoodblauen Metallsarg versenkt worden war in texanischer Juli-Erde, Adieu, Tante, ich vermisse dich, vermisse deine üppigen, türkisen Schlaufen, die nach Mehr baten in den Briefen, immerzu nach mehr: mehr Worte, mehr Natur, und ich hatte sie ihr so gerne geschickt, die Zeilen. Auftragsarbeiten für einen wertschätzenden Mäzen, einen leidenschaftlichen Sammler. Mit ihrem Interesse hatte sie mich gefördert und gefordert, da war ein Band zwischen uns, ungesehen von den anderen, gekappt vom Krebs.

Ich dachte, ich könne nie wieder davon berichten: die in der Luft tanzenden, hingehauchten Aquarelltupfen aus Neongelb, Bordeaux, Bronze, leuchtende, kleinteilige Flächen wie auf japanisches Gampipapier getamet, das war unser Herbst, halb verschluckt vom milchig-trüben Nebel; das Glitzern und Pieksen und Knirschen, eine Schneedecke im Wald, die alten Samenstände von Wiesenkerbel und Beifuß zu Fraktalen gefroren, haubenbesetzt, angetan mit einer Tracht aus Spitze und weißem Brokat.

Die Leute meinen, ich brauche die Reisen, um erzählen zu können. Das Erzählen ist eine Gabe (unabhängig von der stilistischen Qualität oder Inhaltsschwere), d.h. es ist gegeben, vorhanden, einfach DA – ich benötige kein Nachsinnen, kein Austüfteln, Feilen, die Finger tippen es herunter vom Hirn in den PC hinein -, und mir ist es gleich, ob ich von meinem hölzernen Tempellöwen auf dem Schreibtisch erzähle, von hausgemachtem Apfel-Walnuß-Kuchen, vom Geruch verbrennenden omanischen Weihrauchs, von dem Tagpfauenauge, das sich mitten im Winter flatternd und wunderschön in mein Zimmer verirrt hatte, bis ich es behutsam wieder nach draußen beförderte. Aber damals, als ich den Blog initiierte, wollte ich eine Plattform schaffen für die Erlebnisse unterwegs auf Touren, sie illustrieren mit den Fotos, die ich mit den Augen zeichne und mit dem Herzen koloriere.

 

Azoren, Juni 2012.

Drei Jahre zuvor hatte mir der Wärter eines peruanischen Museums vehement versichert, 2012 vollziehe sich die Zeitenwende, wie vom Mayakalender prophezeit; er trug das Haar lang und offen, das Gesicht war ebenmäßig, schmal, wir standen umgeben von hölzernen Madonnen und Heiligen Michaels, fein geschnitzt, gewandet in echte, bestickte Stoffe voller Gold- und Silbergarn. 2012 kam die Zeitenwende für mich, er sollte recht behalten, der kommunikative Wärter in Peru. In meiner Biographie gibt es ein vor den Azoren und ein nach den Azoren, obwohl man objektiv von außen betrachtet gar keinen Unterschied konstatiert.

Den Krakeelen einer keramischen Laufglasur gleich lag das Netzmuster einer grellorangen Geißeltierchenkolonie vor mir. Wir schnorchelten im Becken eines unbelebten, winzigen Hafens, das eisige Atlantikwasser machte mir zu schaffen, ich versuchte, die Kälte zu ignorieren, das Taubwerden meiner Zehen in den starren Flossen. Zusammenreißen!, ich Schwächling… Fische kreuzten vor mir, manche direkt in meine Taucherbrille stierend. Ein poetisch anmutender Schriftbarsch zog vorüber. Ich hielt es nicht weiter aus, verließ das ummauerte Meer, auf dem Betonpier umherhüpfend wie ein Rumpelzwerg, um mich irgendwie wieder warm zu kriegen, lächerlich… Die anderen folgten erst viel später, sie schnatterten und klapperten nicht, kein Bibbern und Schlottern, befremdet kuckten sie mich an wie die Fische zuvor. Mia schälte sich sogar im schneidenden Wind des bedeckten, unfreundlichen Tages aus ihrem Neopren, dabei ihre hübsche Figur präsentierend, um die ich sie beneidete (wie ich wehmütig jeder wohlgeformten Frau nachkucke), sie trocknete sich mit einem Frotteehandtuch ab, der gesamte Rücken ein kunstvolles Gemälde aus Tattoofarbe, eine im Uferdickicht ruhende Libelle, eine Irisgruppe, ein Kranich, alles meisterlich komponiert zu einem japanisierenden Landschaftsgebilde und hervorragend gestochen von einer “Berliner Koryphäe”, wie es hieß. Mia spielte definitiv in einer anderen Liga als ich – doch in welcher Liga spielte ich denn?

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