269 Graffiti Talk

269 Graffiti Talk

Brüssel, Januar 2024.

 

Can You See Mee (sic!)?

Das Gebäude hatte mich zu sich gerufen; eine lang gezogene Straße führte hin zu ihm, um sich dann genau dort aufzuspalten in zwei Nebenstraßen. Die Fassade besaß eine ehrwürdige Ausstrahlung, vibrierend, als flösse eine gewisse Energie um die Steine herum, eine fein austarierte Kirche des frühen siebzehnten Jahrhunderts. Als ich den gestreckten Bau umwandelte, staunte ich nicht schlecht, waren sämtliche Mauern und Wände über und über bedeckt von Graffiti, keine Kunstwerke, sondern Territorialmarkierungen und Minderheitenbotschaften. Hier besaß das Kirchenwerk keinerlei Flair, war es ein Produkt neuerer Zeit (um 1900 herum errichtet), hier tobten sie sich aus bei vandalistischen Schmierereien. Dead men don´t rape, stand da, mich mit einer unguten Gänsehaut berieselnd. Ich begriff es als politisches Statement, aber jede Form der Gewalt ist mir zuwider, und so beeindruckte es mich zwar, doch versuchte ich zugleich, seinen Sog abzuschütteln: ich fühlte mich unwohl, wo ich mich befand, und kehrte schleunigst zur Hauptfront zurück. Ein verblichenes Schild klärte auf, daß der ursprüngliche Kirchenbau der jetzigen Fußgängermeile hatte weichen müssen und lediglich die Fassade abgetragen und wieder zusammengesetzt worden war irgendwo im Abseits der Stadt. Was mich als Kunsthistorikerin faszinierte oder als jemanden, der von sich behauptet, Energien und Strömungen spüren zu können, war der Fakt, daß die originale, eben merkwürdig respektvoll vibrierende Fassade als einziges von sämtlichen Graffiti verschont geblieben war. Nur die vier auf dem schmalen Platz vor der Kirche in gleichmäßigem Abstand aufgereihten Sitzbänke waren besprüht worden, in übergroßen weißen, krakeligen Lettern las man: Can You See Mee? In der ersten Sekunde amüsierte mich das verkehrte doppelte e, augenscheinlich davon kündend, daß der Hinterlasser nicht sonderlich des Englischen mächtig war, aber gleich darauf erkannte ich die Poesie dahinter an, den gelungenen Reim nicht nur akkustisch, sondern auch visuell zu unterstreichen. Als drittes gefiel mir die Aufteilung: pro Bank bloß ein Wort, was einen Rhythmus bildete, geradezu blockartige Pausen, ein optisch-gedankliches Innehalten: Bank/Can – Freiraum – Bank/You – Freiraum – Bank/See – Freiraum Bank/Mee?

Außer mir gab es keine anderen Passanten. Ich war alleine nach Brüssel gekommen. Verpflanzt wie die frühbarocke Kirchenfassade, inselartig abgestellt. Irgendwer – eine Person, die ich nie kennenlernen werde und vermutlich auch nicht treffen wollen würde, eine Person mit fernem Bildungsniveau, aus mir fremdem Millieu und von wohl aggressivem Hintergrund -, irgendwer hatte mit seiner Frage ein Ausrufezeichen gesetzt.

Kannst du/ Können Sie/ könnt ihr mich sehen?

Und die Antwort ist gleich mitgeliefert: nein.

Ein unsichtbarer Mensch. Außerhalb meines Radars, unseres Radars. Anklage steckt darin und beinahe verzweifelte Verwunderung, anonyme Bitterkeit, ein unterschwelliges Flehen.

Gesehen habe ich ihn oder sie nicht. Aber, in gewisser Weise, auf ganz abstrakte, zarte Art, meine ich, verstanden. Und so verlinkt für ein paar Minuten die Schrift über Zeit, Raum, sämtliche Schranken hinweg zwei getrennte Wesen, ohne daß es je bemerkt würde. Das macht Kultur aus für mich: Schöpfer und Adressat, die selten zusammenkommen im Du und trotzdem interagieren auf einer Ebene, die die Wissenschaft eventuell einmal erklären können wird mithilfe der Quantenphysik. Jedenfalls habe ich etwas gelernt über die Schönheit eines zu viel gesetzten Buchstaben.

 

Can You See Mee?

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