114, Teil I: Absinthfarbener Schnee

114, Teil I: Absinthfarbener Schnee

Türkei, Lykien, Oktober 2019.

Die satt grünen, fast grellen Kiefernwolken auf dem porösen Gestein wirkten, als sei absinthfarbener Schnee auf die Hügelzüge gefallen. Wir schipperten hunderte Meter vom Ufer entfernt die Buchten entlang; der harzige Duft der Nadelbäume stieg einem in die Nase, während das Mittelmeer seinen Salzgeruch ganz untypischer Weise für sich behielt, sodaß man sich eher auf einem See wähnte. Silbrig, milchig lag das Licht auf der fast glatten Oberfläche des Gewässers, ein fahles Sonnenrund schimmerte zurückhaltend auf der weißlich-trüben Leinwand des Himmels. Der Horizontlinie östlich von uns folgte eine Gulet, die aussah wie die hübschen Schiffsmodelle, die manche Hobbybastler in liegenden Flaschen zusammenbauen, Takellage, Segelmasten, stromlinienförmiger Holzkörper zeichneten sich im Zinn des bedeckten Morgens als graue Schemen ab. Wir schaukelten zielstrebig der Landungsstelle entgegen, von welcher wir zur Tageswanderung starten sollten.

Das Meer war sanft türkisen und nach meinem Geschmack eine Spur zu kalt, was an den hohen Temperaturen gelegen haben dürfte, die mich während des Wanderns zuvor aufgeheizt hatten wie ein knackender Bollerofen eine Gebirgskate im tiefsten Winter. Ich schwamm ein wenig weg vom Boot, ein paar Kreise ziehend, die aufragenden, scharfkantigen Felsen vor mir betrachtend; ich schalt mich selbst für eine törichte Angst, die in mir aufstieg: das Unbehagen, ein Hai könne erscheinen. Beschämend, unnütz, wider besseren Wissens, und trotzdem war die Beklemmung vorhanden, mir real. Ich staunte ein wenig über diese irrationale Furcht, da ich mittlerweile eigentlich recht gefestigt bin und Situationen gut einschätzen kann. Ich flüchtete denn auch nicht zurück zur Leiter vor einem fälschlich verschrieenen Raubfisch, sondern vor meinem Unvermögen, das Eintauchen und Planschen zu genießen; aus einem unerfindlichen Grund war ich nicht bereit, mich achtsam und wertschätzend auf das Jetzt und Hier einzulassen, war abgelenkt von flirrenden, huschenden, unsteten Gedanken – ich spürte, eine Yogaeinheit an Deck war überfällig.

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