115, Teil II: Dem Meer die Zunge herausstrecken

115, Teil II: Dem Meer die Zunge herausstrecken

Türkei, Lykien, Oktober 2019.

Die Gottesanbeterin nahe eines üppig mit prallen Weinreben behangenen Zaunes entdeckte eine Mitreisende. Das Insekt war verblüffend grazil und filigran, feingliedrig, beinahe verschnörkelt und winzig in seinen Ausmaßen, skurril in der Proportion und wie von einem fremden Planeten gefallen. Auf einer Hand stand sie steif Modell für meine Kamera. Woanders bot sich mir eine farbenfrohe Libelle dar, der Leib rot-gelb gebändert, die übergroßen Kugelaugen blass blau, pastellen, zwei Murmeln aus gemugeltem Larimar. Eine Landschildkröte war dem Pfad einem herbstlichen Pilz gleich aufgepflanzt. Behutsam hob ich sie an, darauf achtend, daß sie mich nicht beißen konnte und natürlich darauf, sie nicht zu arg zu erschrecken. Langsam ruderte sie mit ihren urigen Beinen voll kleiner Plättchen, Erhebungen, Knoten, Runzeln umher, die Krallen schwarz manikürt. Wir blickten einander an, sie aus glänzenden Stecknadelköpfen – was sie in mir sah, das vermag ich nicht, zu sagen. Herb und voll schmeckte der Granatapfelsaft, den wir irgendwo erstanden am Rande einer Ortschaft, kein Vergleich zu demjenigen, den man in Deutschland  angeboten kriegt.

In Kas fühlte ich mich nach Faijal katapultiert, von der Türkei hinaus westwärts zu den Azoren, von der Gegenwart ins Jahr 2012, als ich vor der mit Graffiti überfrachteten Kaimauer stand, gelungene Einzelbilder, ein moderner Poseidon, ein naturalistischer Zackenbarsch. Ich mag es, wenn Kunst auf das Leben trifft, mag es, wenn Erfahrungen sich überschneiden und man Dinge verknüpfen kann zu einem Gefühl der Kongruenz, der biographisch-seelischen Stimmigkeit. Auch die steilen Gassen Kas´ entzückten mich, die hölzernen Erker, bunt gefaßten Balken und Fensterrahmen, die blühenden Bougainvillaen, Schaum wie aus einer Einhorn-Märchen-Wunderwelt. Händler warteten auf Kundschaft, es gab Schmuck und Trödel und gemalte Bilder des Ortes, Kleidung, Postkarten, Lampen. Ich kaufte nichts, brauchte nichts und ging doch auf im Schauen: ein Mann, der einen schwarzen Welpen streichelte, zwei Frauen, auf der Vortreppe ihrer Geschäfte hockend, plaudernd, Kellner, die sorgfältig die Tische der Lokale für das Mittagsmahl eindeckten. Überall war Taucherzubehör ausgestellt, Flossen, Neoprenanzüge, Masken, denn in der kleinen Mole lagen überwiegend Boote, die Unterwasserausflüge etwa zu diversen Wracks anboten. Mir genügten die glitzernden Fischleiber im Hafenbecken, kleine huschende Schwärme vor helljadener Folie, Perlenrhomben auf flüssiger Seide. Dieses Mal verzehrte ich mich nicht nach dem Meer, erlag ich nicht seinen Einflüsterungen, Beteuerungen, Versprechungen – ich zeigte dem Meer keck und selbstbewußt die Zunge und hielt ihm entgegen mit Rentiernasen und kubistischen Kunstwerken der nordischen Berge (vgl. Beiträge 106 bis 108), vertröstete es auf Nazaré in wenigen Wochen später. Jetzt aber gab es die Türkei, den Lykischen Weg, steinerne Grabmale und ewige Feuer. Obwohl die Pfade meist der Küste folgten, blieb das Meer fern und vage, gewiß auch, weil es sich nun von seiner braven, biederen Seite zeigte, kaum von Wellen erschüttert, gleichförmig blank, trotz gelegentlichen Windes, umhüllt von Hitze und Trägheit.

 

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