96, Teil III: Biologische Assistenz

96, Teil III: Biologische Assistenz

Dubai, Januar 2016.

Ein Verrückter verursachte Beklemmungen und damit Spannungen innerhalb der Gruppe; ein Psychopath, zweifelsohne.

„Ich traue mich nachts gar nicht aus dem Zelt!“ raunte Karola weithin vernehmbar uns zu. „Ich mache Pipi einfach in die Waschschüssel… Ich meine, wenn der mit seinem Messer… Ich höre ihn herumschleichen! Ich denke immer: Mein Gott, jetzt kommt er und bringt dich um! Wirklich, solch einen Schiß hab´ ich! Wer weiß, wo der ausgebrochen ist… Bei den Amis muß man mit allem rechnen. Die arme Ehefrau, die ist doch echt nett, Belgierin, richtig gut kann ich mich unterhalten mit ihr, und wie sie lacht, offenherzig, heiter, völlig normal, aber der -“

Karola redete ungebremst weiter. Das Problem bei Karola bestand darin, daß sie sich in einem nie endenden Gesprächsstrom befand, theatralisch intoniert, mit Floskeln und Plattitüden versetzt, aufgeregtem Gänseschnattern nicht unähnlich. Das erste, was man frühmorgens nach dem Weckerklingeln um halb fünf vernahm, war eine Anekdote aus ihrem Mund, und das letzte, was mir gegen Mitternacht an die Ohren drang, bevor ich sie mit Schaumstoff versiegelte, war Carolas Stimme, die durch das herunterbrennende Lagerfeuer prasselte. Einer Vorahnung folgend hatte ich mein Zelt vom Zentrum des Campareals so entlegen wie möglich errichtet, auf einem Hügelkamm neben einem Baum, der sich mithilfe besonders langer Wurzelstränge mit Grundwasser versorgte, um in der Kargheit zu überleben. Auch wenn es sich um eine gezähmte, ungefährliche Wüste handelte, war ich doch hierher gereist, um Kraft zu tanken aus der Stille und Ruhe, die ich dort anzutreffen glaubte. Außer Karola trübten meine meditative Versenkung zwei bockige, übellaunige Teenager von elf und dreizehn Jahren, pubertierende Mädchen, die stocksauer auf ihr Smartphone verzichten mußten und den essentiellen virtuellen Dauerkontakt zur Mitwelt.

Die drei aufgestellten Dixi-Klos waren trotz täglicher Leerung stets in erbärmlichem Zustand, sodaß ich mir die Freiheit nahm, die Wüste aufzusuchen für gewisse Grundbedürfnisse (- blöd und unbeschreiblich peinlich nur, wenn inmitten des großen Geschäftes zwei Düsenjets des Militärs recht bodennah über einen hinwegdonnern). Die deutsche Tourleiterin störte sich an meinen mangelnden Englischkenntnissen, die anwesende britische Journalistin, die eine Reportage über – wen wohl? – Karola verfassen sollte, verspottete mich gar dafür; das Komische an der Sache ist: manchmal spreche ich die Sprache fließend, ungewöhnlichste Vokabeln verwendend, in ausgereifter Grammatik, und dann wieder – so wie jetzt in Dubai – stümpere und stottere ich Shakespeares Erbe derart schlecht und in ungelenken Brocken vor mich hin, daß mich kaum jemand versteht. Ich vermute, in Dubai lag der Grund darin, daß ich meine Ruhe haben und genüßlich schweigen wollte, anstatt mich in Smalltalk zu üben. Denn mit dem nachdenklichen, introvertierten Hasan plauderte ich ganz vorzüglich, Hasan, der IT-Experte, der zunächst behauptete, aus Jordanien zu stammen, nur um mir ein paar Tage darauf zu „gestehen“, er sei tatsächlich ein in Abu Dhabi wohnender Palästinenser, so als würde ich ihn verurteilen für seine Nationalität, die offiziell bis heute nicht auf dem Papier existiert. Auch mit dem feinfühligen David unterhielt ich mich ohne Hindernisse. Er besaß allerdings die Angewohnheit, Tonleitern zu trällern. La la la laaaaa! – La Laaaaaa la la laa, und so weiter, aus dem Nichts heraus, einfach so. Ich hielt ihn für einen Musiker oder wenigstens ein Hobbymitglied eines Chores, doch als ich ihn nach fast einer Woche gemeinsamer Wüstenzeit fragte, ob das Singen Beruf oder bloße Leidenschaft sei, kuckte er mich völlig verwirrt an.

„Singen?“ gab er ratlos zurück, die Augen weit aufgerissen. Er war Franzose, lebte in Montpellier.

„Ja!“ erwiderte ich. „Du dudelst doch permanent irgendwelche Tonleitern rauf und runter!“

Wir saßen zum höchsten Sonnenstand im raren, bleichen Schatten eines kahlen Strauchgehölzes, unser Lunchpaket verzehrend.

„Tue ich das?“ wollte er wahrhaftig von mir wissen, kauend wie eine Kuh, sodaß ich in ein Lachen ausbrach.

„Ja!“ pflichtete Hasan mir helfend bei.

„Oh!“ machte David, nachdenklich die Stirn runzelnd. Nervös blickte er zur Seite, ehe er flüsterte: „Dann bestimmt, um mich selbst zu beruhigen, um Streß abzubauen. Er ist wirklich unheimlich…“, wobei er mit dem Kinn in eine bestimmte Richtung deutete.

 

Er war Mike. Definitiv sowohl narzisstisch als auch soziopathisch veranlagt…

Um die Worte der Tourleitung, eine sportliche, stark trainierte, reiseerfahrene Frau, zu verwenden: „So etwas ist mir bisher nicht untergekommen, in all den Jahren nicht, die ich jetzt diesen Beruf ausübe!“ Sie meinte damit Mike, US-Amerikaner Anfang 60, hager, großgewachsen, innerlich lauernd, manipulativ, manchmal geradezu liebenswürdig auf scheinheilige Weise, nur um dann cholerisch Pseudo-Macht zu demonstrieren. Zunächst stufte ich ihn als schrullig-nervig und trotzdem harmlos ein, bemitleidete ich lediglich wie alle anderen die beklagenswerte, sehr aufgeschlossene Ehefrau, Tess, Europäerin, Ende 40, humorvoll, hilfsbereit (sie war die einzige der gesamten Gruppe, die außer mir und der Tourleitung das gemeinschaftliche, schmutzige Geschirr wusch und trocknete).

Unsere Aufgabe als biologische Assistenz – sämtlich Laien, die für Kost, Logis und zu verrichtende Arbeit bezahlten – bestand im Monitoring. Einmal jährlich wurde im Dubai Desert Conservation Reserve eine breite Zählung diverser Arten durchgeführt, d.h. die Anzahl der Sandfüchse erfaßt, die sich in unseren zuvor ausgelegten Lebendfallen befanden, die Anzahl der verwertbaren, bewegungsausgelösten Fotografien unserer an strategisch Plätzen positionierten Kameras, die Anzahl der mit dem Fernglas gesichteten Berg- und Wüstengazellen, die Anzahl der im Gebiet (auf der Karte in Planquadrate aufgeteilt) herumstreifenden Oryxantilopen, die Anzahl der Pfotenspuren von Wildkatzen etc. Dieses Vorgehen läßt Schlüsse auf andere Faktoren zu, etwa wieviele Mäuse es geben mag (als Nahrungsgrundlage der Sandfüchse), wie es um die Intaktheit des Reservates als reguliertes Ökosystem bestellt ist (die seltenen, geschützten Oryx werden mit frischem Gras regelrecht fett gefüttert, die Tiere vermehren sich disproportional stark) und dergleichen mehr. Für die Arbeit blieb uns nur wenig Zeit, die durch Hitze und regelmäßig steckenbleibende Jeeps zusätzlich Einbußen erlitt; zudem erwiesen sich weder die beiden Teenager noch Mike als sonderlich effektiv in ihrem Tatenwillen.

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