72, Teil V: Skizzen einer verlorenen Poesie

72, Teil V: Skizzen einer verlorenen Poesie

Oman, Februar 2011.

Der Wind trug Freiheit in sich.

Wie der Atem des Berges umflog er einen, mal sanft streichelnd, mal zerrend. Er berührte, wie kein Casanova es je vermochte… Die Vegetation war spärlich, klammerte sich an das eigentümliche Graubraun der Felsen, das dezent gemustert war mit weißen und rötlichen Äderchen. Über dem seichtblauen Firmament schwebte feiner Dunst. Kleine Büsche gediehen, winziges Dorngestrüpp, spiralförmig sich eindrehendes Gras, dickfleischiges, vages Chlorophyll, entweder vertrocknet dastehend oder farblich zumindest stark zurückgenommen und sich so dem Boden anschmiegend. Unter manchen Schritten klimperten die losen Steine wie Scherben: ein helles Klingen zerbrochenen Porzellans; der Wind mischte sich ein in diese Melodie, ich glaubte, das Meer in ihr zu hören: ihr Raunen ist miteinander verwandt.

Oft, oft wurde man überrascht, denn nur eine Pfadbiegung weiter entfaltete sich – wahrhaftig! – eine neue Szenerie; fern unter uns nun also ein weites Tal, umsäumt von einem Gebirgszug mit markanten roten Bahnen und scharfen Schatten, die regelrecht Grate ins Bild schnitten, während schwach im Hintergrund Wolken den Horizont formten.

Im Gehen überkam mich immer wieder dieses friedliche Gefühl von Ruhe. Der Tritt floß in einem wohltuenden Rhythmus, abermals fiel mir das Wort Andacht ein. Wirklich hatte es etwas meditatives, in dieser Stille – neben gelegentlichem Geblöke der halbwilden Ziegen und leisen Gesprächsfetzen der Mitreisenden – sich vorwärts zu bewegen, gedankenversunken und hellwach im Wechsel, letzteres etwa als plötzlich in dieser totalen Ebene gedrungene Bäume auftauchten, die Stämme zerfurcht und wie gedrechselt, in ihrer Gestalt an Tujen erinnernd. Tuja – der Lebensbaum.

Wir saßen spät auf der Terrasse unserer Pension in Misfat – damals noch ein entlegener, romantisch-einsamer Geheimtipp, kein Anlaufpunkt für Touristen der Epidemie ähnlich auftauchenden Kreuzfahrtschiffe in aller Welt – erschöpft von der langen Wanderung, die Bäuche gefüllt mit Reis, Auberginen, Kartoffeln, Datteln. Wir befanden uns fast auf gleicher Höhe mit den Wipfeln der Palmen, die uns einstimmten auf die Oase am nächsten Tage. Ich studierte den Himmel: schwere Tinte aus Schwarz und Blau, sich vermengend und diffundierend, ein unregelmäßiger, ausgefranster Strudel mit bernsteinernem Rand, das waren die dichten Wolken. In schnellen Folgen riß ein Loch auf, klaffend scheinbar durch die Kraft des zunehmenden Mondes. Ein bitter-süßer Anblick, poetisch, kraftvoll. Im Gegensatz zu meinen weiblichen Mitreisenden störte mich die Ratte nicht, die sich die Krümel des Buffets am Boden stibitzte, ich fand ihre rege Geschäftigkeit eher amüsant. Von dicken, rohen Lehmmauern umgeben, auf eine schlichte Matratze gebettet, würde ich bald in tiefen Schlaf versinken.

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