260 Lee Miller drängt mich nach Hamburg

260 Lee Miller drängt mich nach Hamburg

Hamburg, September 2023.

 

Dieses Stück ist eine poetische Tragödie. Uns wird die endgültige Auflösung einer wertvollen Person vorgeführt, die früher große Fähigkeiten besaß und die auch noch in ihrem Untergang einen höheren Wert hat als die „gesunden“, gewöhnlichen Figuren, die sie umbringen.

(aus dem Programmheft zu John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“, Ballettadaption nach Tennessee Williams)

 

Ich empfinde Mitleid, schockiertes Mitgefühl, für diesen Mann auf der Fotografie, dessen Gesicht zu Brei geschlagen worden ist, deformiert, zerbrochen, aufgedunsen, blutig, kaum noch menschlich, das Antlitz. Es ist eine spontane Regung, die mich zusammen mit entsetzter Übelkeit befällt, und sogleich schießt mir durch den Kopf: „Du darfst nicht mitfühlen…!“ Denn es zeigt einen der Aufseher des Konzentrationslagers Buchenwald unmittelbar nach der Befreiung. Und wie ich vor diesen Stapeln ausgemergelter Leichen stehe, den zerbombten Häusern, dem Elend, da frage ich mich: warum? Warum, Laura, tust du dir das immer und immer wieder an? Wieso mußt du dich mit Schrecken, Not, Mißstand, Gewalt, mit Ungerechtigkeit, Verfall, dem Horror der Vergangenheit (und auch jenem der Gegenwart) auseinandersetzen, dich ihm aussetzen? – Die umfassende retrospektive Schau, für die ich eigens von München nach Hamburg gereist bin, heißt: „Lee Miller. Fotografien zwischen Krieg und Glamour“, und ich besuche sie, weil es hinter meiner Stirn permanent hungrig ist; weil ich früh in diesem Jahr die vom Sohn der Künstlerin verfaßte Biografie über Lee Miller gelesen habe; weil ich in einem Modemagazin Werbung für die Antwerpener Man Ray – Ausstellung entdeckt hatte, Lehrer, Mentor und Geliebter Lee Millers während der surrealistisch geprägten Pariser Zeit in den Zwanzigern, und sie mir dort angekuckt habe, die Ausstellung; weil ich in Hamburg nun herausfinden wollte, mit eigenen Augen, wie die einstige Schülerin später gearbeitet hat bildnerisch, sich losgelöst von männlicher Führung. Weil alles mit allem zusammenhängt, und je mehr man an Puzzlesteinchen aufstöbert, desto größer wird das Gesamtmosaik, ohne je vollendet zu werden, folgt schließlich auf jede Antwort ein Schwung weiterer Fragen. Es ist nicht nur wie ein gewebter Teppich, d.h. flach und eben, nein, es ist ein dreidimensionales Gefüge, hochkomplex, ein Seidenfaden über und neben und unter den anderen geschossen, geknüpft, geschlungen, ohne an ein finales Ziel zu gelangen (dieses nur gibt der Tod vor), eine komplizierte, textile, aber auch fragile Skulptur, die jede Schere durchtrennen könnte.

Als nichts mehr ging, während der qualvollen geistigen Wüste, die tiefe Wunden geschlagen hat und noch nicht ganz vernarbt ist, war ich mit einem Bier in einem geschliffenen Glas in ein online abrufbares, von John Neumeier choreografiertes Ballettstück namens „Ghost Light“ geflüchtet (vgl. Beitrag 168). Kurzes Ausholen: meine siebenundachtzig Jahre alte Großtante lebt in Hamburg, ich plauderte letzte Woche erstmals seit Jahren ein paar nette, gesellige Stunden mit ihr auf der Terrasse ihres putzigen Häuschens, bei Altona gelegen. Um die Zeit imzuge des Aufenthaltes gut zu nutzen, versuchte ich, eine Karte für die Elbphilharmonie zu ergattern, denn nach der Lektüre Kent Naganos „Ten Lessons of my Life“, das ich zum Niederknien fand, drängte es mich, den großen Dirigenten selbst in natura zu erfahren, nur fanden keine Konzerte statt, die zum Fenster des Städtetrips paßten (Lee Miller im Bucerius Kunstforum sollte Ende September auslaufen). Da fügte es sich, daß genau in jenem Moment die Premierenwoche einer Ballett-Wiederaufnahme John Neumeiers stattfinden sollte: nach exakt vierzig Jahren brachte er sein nach Tennessee Williams´ adaptiertes Stück auf die Bühne zurück, in die Hamburger Oper. John Neumeier, mit dem ich online im intellektuellen Shut Down überlebt hatte, würde mein persönlicher kultureller Re-Start sein (das letzte Ballettstück hatte ich 2019 sehen dürfen).

Lee Miller. Man Ray. Kent Nagano. John Neumeier. Vier Namen. Vierzigtausend Anknüpfungspunkte. Ich könnte in alle Richtungen ausschwärmen, historisch, politisch, soziokulturell, künstlerisch; nicht weil ich angeben möchte, prahlen, mich profilieren mit „Wissen“. Nicht deswegen. Sondern weil mein Hirn immer immer immer immer hungrig ist. Es kann nicht aufhören, zu suchen, zu entdecken, zu expandieren, es will hinaus in den Weltengeist, sich ausdehnen, bis – bis es irgendwann einmal einschlafen wird, ins ewige Schweigen eintauchen.

Ich stiefele noch über die Cap San Diego, ein fahrtüchtiger Museums-Frachter, vertäut am Baumwall, besteige den Michel, um im eiskalten, heftigen Wind im 360Grad-Panaorama über die Stadt zu schwelgen, lasse mich auf einer Rundfahrt durch den Hafen schippern, eine salzige Brise in der Nase und das Gefühl kindlicher Freiheit im Herzen. Kurz vor der Speicherstadt, die Straßen sind belebt von Touristen, läuft eine Frau an mir vorüber, sie trägt Jeans zu Sneakers und ein curryfarbenes, gestricktes Oberteil, einen kurzen Lockenzopf und auf dem linken Arm einen wunderschönen Falken, dessen Augen mit einer ledernen Haube bedeckt sind, wie man sie schon von mittelalterlichen Darstellungen her kennt. Auf einer metallenen Brücke stehe ich, die hohen Backsteinbauten mit dem zweitgrößten Orientteppichlager der Welt zu beiden Seiten neben mir aufragend, die Seilwinden und Flaschenzüge wie seit Ewigkeiten still gelegt; eine gemauerte Treppe führt hinunter zum Wasser, das glucksend die Stufen hinaufschwappt in beständigem Wogen: ich meditiere darüber minutenlang, zurückgesogen in der Zeit, hin nach Venedig, wo ein Kuhreiher auf immer nach Fischen oder Krebsen Ausschau halten wird auf eben solchen von Wellen friedlich beklatschten Stufen (vgl. Beitrag 198) – – – alles verbindet sich, geht ineinander über, ein weiterer Seidenfaden-Schuß.

Und dann die Fülle winziger Zufälle, die mein Erleben prägen. Im gehobenen Designhotel liegen in meinem Zimmer auf einer Frisierkommode fünf, sechs Bücher aus, vintage würde man die nennen, angestaubt, gebraucht; Ringelnatz und KZ-Erinnerungen etwa, und ein Roman, von dem ich nicht glauben kann, daß ich ihn gerade wirklich in den Händen halte, Kazuo Ishiguros 2005 erschienene Klon-Dystopie „Alles was wir geben mußten“ – exakt jenes Buch, an dem ich eigentlich augenblicklich las, das ich aber aus Platzgründen (reines Handgepäck im Flieger) daheim gelassen hatte… Da sicherlich in jedem der Zimmer andere Bücher zur Verfügung gestellt worden sind, ist der Zufall noch gesteigert, verrückt. Theoretisch hätte ich also mein „Münchner“ Buch in Hamburg weiterlesen können (praktisch fehlten mir Zeit und Muße).

Oder dieses: vor dem Lang Lang – Konzert in der Isarphilharmonie (vgl. Beitrag 254) damals nippe ich an meinem Sekt, als ein Mann in mein Blickfeld marschiert, der mich zunächst aufgrund seines feinen, seidenen Nadelstreifenanzuges in Bronzeton fasziniert. Als ich sein asiatisches Gesicht, umrahmt von mittellangen Haaren, mustere, überlege ich kurz, ob es sich um Kent Nagano handeln könnte, was ich des verkehrten Alters wegen verwerfe (ein paar Jahre zu jung, ansonsten sehr ähnlich). Nun. Die Hamburger Oper öffnet erst eine Stunde vor Aufführungsbeginn, ich nutze das verbleibende Viertel, mir ein sündig fett-süßes Kringel-Spritzgebäck zu holen. Auf dem Weg zur Konditorei, wenige Meter hinter der Oper, kommt mir zügigen Schrittes ein schick gewandeter Herr entgegen (es wimmelt vor herausgeputzten Leuten, logisch), ein Herr, der kurz stutzt, als er mir in die Augen sieht: es ist exakt eben jener Mann aus dem Foyer der Isarphilharmonie vor dem Lang Lang Konzert, und paradoxerweise hat auch er sich an mich erinnert und wiedererkannt, ohne – wie ich – ein Wort darüber zu verlieren.

Zufälle. Fakten. Erlebnisse. Namen, Bücher, Dokumentationen, Ausstellungen, Taten, Schlußfolgerungen, Reflexionen, Traumbilder, Emotionen. Natürlich vergesse ich Dinge, zu genügend! Entfallen sie mir, landen im Abfluß meines Gedächtnisses, Adieu. Aber der Rest ist ein stetig währendes kompliziertes System, das startet, sobald ich morgens erwache und erst mit dem Einschlafen kurz ausruht, pausiert. Und was soll ich sagen, um ganz ehrlich zu sein: ich hasse es. Es ist, wie hieß es gleich im Programmheft zur Ballettadaption von „Endstation Sehnsucht“? Eine poetische Tragödie. Meine poetische Tragödie, die so ungeheuer anstrengend ist und so unendlich verdammt einsam macht.

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