259 Als gäbe es den Menschen nicht

259 Als gäbe es den Menschen nicht

München, August 2023.

Es ist mir, als gebe es den Menschen nicht; als habe wer mit dem Zauberstab alle Tiere herbeigehext, so häufig zeigen sie sich die letzten Wochen. Als sei die Arche Noah ganz in der Nähe gestrandet und habe ihre Passagiere in einem Schwall ausgespiehen, mir quasi vor die Füße, unter die Nase gespült. Ich brauche mich bloß auf das Rad zu schwingen oder mit dem Hund im Dog Bus loszumarschieren, und ich bin umwoben von reicher Flora, von berstender Fauna, märchenhaft und definitv ein Relikt: ich weiß, daß all dies verschwunden sein wird in Zukunft, daß ich den letzten Zeugen angehören werde. So soll mein Blick nun aber nicht auf den Mißstand fallen, auf den Niedergang und den bereits geschehenen Verlust, sondern sich auf die verblüffend überschwengliche Schönheit konzentrieren, in der ich baden darf momentan, sie einatmen, aufsaugen und einbauen in meine DNA.

Warmer Fahrtwind umwirbelt mich, während der salbeigrau- und himbeerfarbene Drahtesel gemütlich über Feld und Flur gondelt. Es bieten sich mir so viele Bilder, perfekte Kompositionen und harmonische Strukturstufungen, daß es in meinem Hirn permanent klickt: ein Foto geschossen und noch eines und hier, und, ach!, ist das entzückend… Ich merke, wie ich lächle, immerzu lächle.

Die Wedel des Riedschilfs verzahnen sich mit rosa Dost, gelbem Johanniskraut, mit Goldrute und Baldrian und imposanter, kandelaberförmiger Angelika. Dazwischen prangen orangen, noch nicht ausgereift, fette Hagebutten; Brombeeren glänzen appetitlich-lockend, eßbare Murmeln (die Stacheln der Ranken werde ich später sorgsam aus meinen Fersen puhlen, denn ich trage Flipflops), im gleichen schwarz-violetten Blauton biegen die Äste der Holundersträucher sich unter dem Gewicht der Fruchtdolden. Stieglitze flattern auf, sich in einem Kratzdisteldickicht niederlassend, Teddyflaum feinster Steiff Manier, mich verwundert beobachtend. In der saftig-satten, übergrünen Feuchtwiese geht ein Fuchs auf Mäusejagd, sein rotes Fell eine Signalleuchte. Ich kann das buschige Weiß des Schwanzes sehen und den schwarzen Flecken an der Schnauze, so präsent ist er, und doch völlig vertieft in seinen Beutezug, er gewahrt mich nicht. Niedrige Öhrchenweiden und verführerische Schneeballfrüchte (ungenießbar) und hunderte Meter an Springkrautphalanx, die Blüten nicht nur rosa, sondern häufig makellos rein weiß, säumen morastige Gewässer. Selten gewordenen Rainfarn gibt es heuer, sein schallendes Gelb ein Schock in der Landschaft. Blutweiderich tupft barbie-esk auf, stattliche Mosaikjungfern flirren vorüber. Die Bremer fressen mich auf, die Mücken piesacken, daheim dann schaue ich aus wie Kirschstreusel, egal.

Im Moor bleibe ich kurz stehen, ein Graureiher schreckt auf. Es dauert nicht lange, da vernehme ich ein leises Geräusch. Es stammt von einer imposanten, bestimmt eineinhalb Meter langen Ringelnatter, die sich ans Ufer schlängelt. Ich stutze, in der Ferne, auf einem Totholzast, erkenne ich im kräftigen Gegenlicht eine Silhouette, charakteristisch aber neu für dieses Biotop: nach ein paar Minuten des geduldigen Spähens dippt sie ins Naß: ein Eisvogel! Hier an dieser Stelle treffe ich ihn in bald zwanzig Jahren zum ersten Mal, ein Geschenk des Zufalls (Tage darauf glitzert er türkisen-prächtig in Armlänge vorbei, ein märchenhaftes Blinken wie von einem anderen Stern)…

An einer bekiesten Allee scheuche ich Greifen in die Lüfte: verschiedene Falkenarten, Milane, Bussarde und sogar eine Weihe, sie alle kreisen relativ dicht über meinem Kopf dahin, große Schatten auf mich werfend, aber sie ängstigen mich nicht. “Miaaaaahhhh!” schreie ich nach oben, denn Bussardrufe imitiere ich ganz gut; meiner Interpretation nach sage ich ihnen damit: “Servus Spezi!” Ein weiterer Fuchs kreuzt meinen Weg, keine drei Meter vor dem Vorderrad, ein noch etwas mageres, schlacksiges Jungtier, das sich in die Maishalme flüchtet.

An einer Kirche hat man ein steinernes Halbrondell errichtet, das wie ein Miniaturamphitheater hinabführt zu einem glasklaren Bach; an einer seichten Stelle trinken die Bienen schwarmweise. Vorsichtig steige ich über sie hinweg und spaziere müßig im kalten Wasser umeinander. Ein dicker Fisch grundelt über flutende Gewächse hinweg – es dauert, ehe er mich bemerkt und sich dann trollt, eine Barbe ist es. Im Gras sonnt sich ein giftgrüner Frosch, dessen Haut vom vorangegangenen Bad glänzt wie die Brombeeren zuvor.

An der Kuhweide mit Tieren der idyllischen französischen Rasse Charolais stakst ein Storch unbekümmert umher. Es zischen scharf und schneidend wie Pfeffer am Gaumen in Massen die Grashüpfer; ein großes Heupferd, grau mit schwarzen Streifen, zeigt im Flug edelsteinblaue Flügeldecken (etwa in der Nuance eines Larimars), eine Ödlandschrecke. Auf einer Lichtung im Wald ragt ein wie verlassener Jägerstand auf, den ich erklimme. Wirbelförmige, zottige Gräser – chlorophyllene, brandende Gischt -, weiße Bänder aus Scharfgarbe, allerlei Distelvarianten bieten sich mir neben Jungfichten und Laubbaumschößlingen, der eine oder andere Perlmutterfalter und, tatsächlich, wilde Blasenkirsche, besser bekannt als Physalis. Ohne auf der Suche danach gewesen zu sein, sammle ich vier, fünf große, feste Steinpilze, die eine herrliche Mahlzeit abgeben abends: Ragout an Parmesan-Polenta und garteneigenes Salatgemüse mit Johannisbeerdressing. Wie der Blitz huscht ein Marder über den Pfad; in den Brennessel umstandenen Erlen hämmern die Spechte, und an einer Suhle riecht es nach Wildschwein.

Überhaupt liegen in der Luft Duftkonglomerate, für die es keine Namen gibt, außer dem Substitut: Spätsommer. Ich schildere im übrigen keine Szenen aus streng bewachten bayerischen Naturschutzgebieten, nein; ich radele einfach von einem Dorf ins nächste, mal über Asphalt und Teer, dann eben durch kleine, versprengte Flur- oder Waldstücke, alles kultiviert und bearbeitet, und trotzdem angefüllt mit winzigsten Schnipseln übrig gebliebener Schöpfungskraft rezeptive Evolution. Inmitten abgeernteter Monokultur befindet sich ein Flicken Brachland voll alter, verdorrter Samenstände, und genau dort schwirren hunderte (!) Mehl- und Rauchschalben auf der erfolgreichen Suche nach Insekten in halsbrecherischem Tempo, beinahe hektisch, und doch auf ihre Art elegant, in abrupt wechselnden Zickzacklinien umher.

Ich juchze und freue mich, summe unzusammenhängende, frei erdachte, dissonante Melodien. Ich radle allein, ohne jede Begleitung, und bin heilfroh darüber. Ich meine es nicht zynisch oder garstig, aber die Erleichterung, die Freiheit durchwabern mein gesamtes Sein. Es ist, als gäbe es den Menschen nicht (natürlich rattern über die Äcker die Traktoren, überholen mich zuweilen PKW, treffe ich Hundebesitzer), gäbe es den Menschen nicht, und die Tiere könnten ihren Tätigkeiten nachgehen, ganz ohne Furcht und Störung. Als seien sie verwundert, plötzlich doch von mir entdeckt zu werden, von einem Menschlein; aber in solchen glückseligen Momenten, da fühle ich mich nicht getrennt davon, sondern erlebe ich eine Einheit, die mir keine Kultur, keine Gesellschaft und, ehrlich gestanden, auch kein Individuum des Homo sapiens sapiens bieten kann. Vielleicht heißt das Transzendenz? Auflösung, Verschmelzung? Egal, es macht jedenfalls satt und zufrieden, genügsam. Man weiß: man lebt. Jetzt, genau jetzt, alles wird dicht und voll, richtig und einfach nur: gut.

In eineinhalb Stunden trödelnden Radelns kann man Kraft und Sinn tanken für Wochen. Auf einem efeuumrankten Marterl steht: “Gott schütze Wald, Feld und Flur” Und Moor, denke ich, ganz doll mit dem Kopf nickend – es sieht ja keiner, außer dem Wiesenwühlmäuschen, das gerade aus dem frisch gewendeten Heu hervorlugt.

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