244, Teil I: Wie die Perle einer Muschel

244, Teil I: Wie die Perle einer Muschel

Cumbria und Manchester/ England, April 2023.

Außer mir befanden sich noch drei, vier weitere schweigende Touristen in der dämmrigen gotischen Kirche, in der es keine Bankreihen, keine Sitzplätze gab und daher ungewöhnlich viel freien, ausgesparten Raum. Zentral angeordnet erhob sich das hölzerne, feingliedrig geschnitzte Strebwerk des Chorgestühls, auf dem die schlichte Orgel thronte. Ich lehnte an einem der rotsandsteinernen Pfeiler, eingebettet in eine Mulde, fast als sei ich die Perle einer Muschel. Ich hatte den Kerzenständer im Blick, auf welchem ich ein Licht entzündet hatte, wie ich es zu tun pflege, wenn ich ein sakrales Gebäude aufsuche, eine kleine, orange glimmende Flamme für meine Schwester, meine Tante, Oma. Der Stein in meinem Rücken fühlte sich nicht kalt an, sondern lebendig, Schuppenkleid eines Fantasiereptils, er bot Halt, Schutz, eine Nische der inneren Ruhe.

Des Organisten zart gespielte Melodien verklangen zu meinem allergrößten Bedauern, es war solch ein wohltuendes, unverhofftes Konzert gewesen. – Dezentes Rascheln, eine schwarze Soutane mit Krummstab führt eine Prozession aus etwa zehn Brüdern an, die wallenden Gewänder weiß und burgundern samten. Die Herren verschwinden inmitten des Kubus´ des Choraufbaus, als seien sie unsichtbar geworden. Gespannte Erwartung. Innehalten. – Die Stimmen heben an, schwingen sich auf, füllen die Luft, klettern die Wände empor, rieseln nieder, tropfen herab, und ohne Vorwarnung wird die Kirche zum niedrigen Höhleneingang vor wenigen Tagen, als der Regen platschend vom vollgesogenen, prachtgrünen Moos geflossen war, die grazilen Tüpfelfarne niedergeronnen, eine Sinfonie aus H2O-Molekülen und Chlorophyll, wird zur Höhle, zur Cumbrian Route mit all ihren Eindrücken, Erlebnissen, Anekdoten. Gänsehaut schauert mir über den gesamten Körper, im Hals steht der Kloß und zugleich wird es weit in der engen Brust, wird es weit, so weit, ich löse mich auf in dieser immateriellen, unfaßbar betörenden Schönheit. Uralte christliche Ostergesänge, Danksagungen, Lobpreisungen in wunderbaren Harmonien dringen ein in die Architektur, simmern in der Leere des Mittelschiffs, zu greifbaren Gegenständen werdend, konkret, den Ort in eine Zeitmaschine verwandelnd, in der man das Kontinuum wahrnehmen kann, das den eigenen Lebensstrahl in beide Richtungen unendlich verlängert.

Für Millisekunden kurz habe ich meinen Platz gefunden, bin ich richtig, Seele, Mensch, Sandsteinpfeiler, gotisches Schnitzwerk, Musik, Pflanzengrün, getränkte Ebene, bin ich aufgehoben, emporgetragen, gewiegt, gekost, verziehen, frei vom Ego, Gedankenkerker. Und von sämtlichen Kostbarkeiten dieser prallen Woche, die mir geschenkt worden ist, die ich erleben durfte, durchleben, mir aneignen, ist es dieser eine Moment, der mich mit Freiheit überschüttet und mit tiefsten Frieden.

 

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