218, Teil II: Wo weilen Sie, Mr. Armstrong?

218, Teil II: Wo weilen Sie, Mr. Armstrong?

München, Oktober 2022.

Prinzregententheater, Parkett, zweite Reihe, Platz 44 (auf der rechten Seite des Saals), 11 Uhr. Ein strahlender, goldener Herbstsonntag. Ich wußte beim besten Willen nicht, wo dieser Mann gerade weilte – hier, mit uns, jedenfalls nicht. Ich war überrascht gewesen, wie wenig Mensch da die Bühne betrat, zierlich durch und durch, zehn, fünfzehn Jahre jünger wirkend als die eigentlichen dreißig, filigran, fast ätherisch, wie ein erlesenes Parfüm, das nicht heranpoltert und provoziert, sondern nachdrücklich und zugleich äußerst nonchalent der Luft anhaftet. Wie ein Geist, der heranschwebt, lächelnd, in sich gekehrt, selig, das Klavier einnehmend. Seit fünfundzwanzig Jahren spielte er an diesem Instrument, und doch dachte ich mehr darüber nach, daß er bereits im Alter von zehn Jahren Physik studiert hatte und die Mathematik liebte, daß er als junger Erwachsener eine Kirche erworben und sie zur musikalischen Begegnungsstätte hatte ausbauen lassen.

Nun ist es bedauerlichwerweise so, daß sich das Denken bei mir partout nicht abstellen läßt, ich denke immer immer immerzu, analysiere, studiere, beobachte, assoziiere, wäge ab, ziehe Schlüsse, vergleiche – Yoga und Meditation, mühsam praktizierter achtsamer Besinnung zum Trotze. Ich überlegte also, nachdem ich einige Stücke lang den einzelnen Orchesterspielern jede Bewegung, jedes Gewandteil, jede Mimik hatte abgekuckt, wieviele Menschen für mich tätig gewesen waren, lebende wie längst verblichene: der Architekt, der Stukkateur, der Freskenmaler, der Vergolder; der Polsterer des Sitzes; der Szenenbildner (als Folie für das Konzert diente eine Grisaille geometrischer Formen à la Giorgio de Chirico); der Geigen-/Cellobauer; der Schneider; der Komponist, der Lehrer, der Veranstalter, die Putzfrau und Programmverkäuferin und Garderobiere – wievieler Leute es nicht bedurfte, um mir diesen zweistündigen Hochgenuß zu verschaffen, ich, die ich nichts zu tun brauchte, als hübsch zurechtgemacht, den Sekt noch am Gaumen, zu lauschen: ein schwieriges Unterfangen, weil es in meinem Kopf wie erwähnt permanent flüstert, raschelt, raunt. Da ich über kein geschultes Gehör verfüge und nicht einmal Noten lesen kann, geschweige denn irgendein Instrument beherrsche, war es mir unmöglich, mich rein auf die Musik zu konzentrieren. Ich sog alles in mir auf, das prächtige Theater, das wiederholte, vereinzelte Hüsteln irgenndwo, das unterdrückte Verzücken des Herren vor mir, der zweifellos am liebsten mit vollem Körpereinsatz mitgewippt hätte, die Arme bewegt, sich ganz und gar hingegeben und es nicht tat, weil es sich eben nicht schickte. Die ältere Dame neben mir, die plötzlich inmitten einer besonders lebendigen Passage die Hand ihres Gatten hielt, sie drückte und sich daran klammerte vor innerem Aufruhr, vor zerfließendem Genuß (in der Pause sollte sie ihn herzlich auf die Backe küssen mit einem überschwenglichen: Danke! Danke für die Karte!). Ich sah, wie sich das Orchester freute über den aufbrandenden Applaus zwischen den Stücken, sich freute und sich doch zügelte im Ausdruck dieser seiner Freude.

Zweite Reihe, rechte Seite, das bedeutete, daß mir der Flügel den Blick verwehrte auf die Hände Kit Armstrongs; ich starrte ihm also direkt ins Gesicht, wenn ich mich ihm zuwandte, dieses entrückte, schutzlose, ausgelieferte Gesicht, auf dem stille Ekstase lag. Und ich schämte mich, ihm einfach so – einem niederen Voyeur gleich – unverwandt in die zarte Miene zu schauen, die sich verzog und entspannte und davon kündete: dieser Mann war weit, weit weg, unendlich fern, unterwegs in Gefilden, die ich nie kennenlernen würde. Ich schloß die Augen und spürte nur noch das Vibrieren, das die Instrumente aussandten, als sei ich eine Schale Wassers, auf dem sich Kreise bilden durch den Klangstoß. Ich schloß die Augen, weil ich die Nacktheit der entblößten Pianistenseele beschämend fand, mich beschämend, nicht ihn. Ich fragte mich, was ein solch über die Maßen intelligenter Mensch, der als Kind ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen hatte, sah, wenn er spielte; was er roch; ob Zahlenreihen vor ihm auftanzten oder rosa oder grüne Schleier über ihn hinwegwaberten oder kristalline Prismen. Ob er das Publikum als Präsenz wahrnahm oder völlig abgenabelt auch von sich selbst in den Melodien und Harmonien und Rhythmen aufgelöst wurde, ein Zustand dem buddhistischen Nirwana – Erleuchtung! – ähnlich. Ich fragte mich, wenn Musik, Klassik, live vorgetragen, einen ungebildeten Laien wie mich für einen kurzen Zeitraum quasi verwandelte, was mußte sie dann erst im Meister, in der Perfektion bewirken! Sphären, mir auf ewig unerreichbar.

Das Amsterdamer Kammerorchester brillierte, Schostakowitschs Kammersymphonie c-Moll op. 110a jagte mir Schauer über den vom steifen Sitzen kneifenden Rücken. Jemand, der ernsthaft musiziert, so überlegte ich, kann eigentlich gar nicht einsam sein, er würde immer aufgehoben bleiben im mir völlig rätselhaften, beinahe mystischen Zusammenspiel menschlicher Lautwunder. Und ich vermochte nicht, zu widerstehen, öffnete die Lider und verweilte erneut auf dem faszinierend seligen Antlitz Kit Armstrongs. Ich beneidete ihn; gewiß nicht um Ruhm (pah!), um sein Können (wow!), sondern um diese Welten, die sich ihm erschlossen hinter seiner Stirn und in den Tiefen menschlichen Seelenseins.

 

 

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