217, Teil I: Bettgenossen

217, Teil I: Bettgenossen

München, Oktober 2022.

Die Morgen verbringe ich neuerdings mit David Garrett im Bett. Ich nenne ihn Christian, nicht bei seinem Künstlernamen, ich finde das privater. Es tut gut, zur Abwechslung einmal einen Lebenden um sich zu haben, anstatt der üblicherweise längst verstorbenen oder fiktiven Charaktere. Es ist nämlich so, daß die angefütterten Spatzen die Angewohnheit entwickeln, sich im Riesenbambus vor meinem Schlafzimmerfenster niederzulassen, um dort ihr etwa zwanzigminütiges Hordengeschrei zu fabrizieren und mich damit vor der Zeit zu wecken. Einer Kakophonie von mindestens fünfzig Sperlingen ist einfach nichts entgegenzusetzen, Aufregen, Ignorieren, Ohrenstöpsel zwecklos, also klingen Bücher mittlerweile nicht mehr nur den Tag aus, sondern leiten ihn auch ein.

Hm. David Garrett. Ganz früher, da war der mir bloß ziemlich schnuckelig, langhaarige Künstler mit hübschen Augen sind ja unschlagbar, Starallüren bis zu einem gewissen Grad erwünscht, geschmackvoll exerzierte Exzentrik attraktiv und willkommen: ich stand mit meiner damals besten Freundin Schlange vor der Abendkasse der Münchner Residenz, da wir gehört hatten, für Studenten seien noch Konzertkarten der ansonsten ausverkauften Veranstaltung vorhanden. Ich hatte damals nicht die geringste Ahnung von Klassik, in dieser Hinsicht blieb ich lange, lange unterbelichtet, ein akustisch-musikalischer Analphabet. Wir hatten uns quasi einzig für den berühmten Geigen-Beau herausgeputzt, I. sah sehr hübsch aus, das rote, wollene Kleid unter dem offenen Wintermantel schmeichelte den asiatischen Gesichtszügen, sie besaß immer ein gewisses Extra, eine natürlich-würdevolle Haltung, und sie war genauso kultursüchtig wie ich, eine perfekte Ergänzung, eine tolle Freundschaft für fünfeinhalb erfüllte, abwechslungsreiche, beglückende Jahre (danke! Danke dafür von ganzem Herzen).

Wir warteten brav, rückten zentimeterweise vor, solch ein Andrang. Eine ältliche, etwas graue, dröge Dame, die gar nicht recht zum Ambiente der historischen Räumlichkeiten passen wollte, hockte hinter dem Schalter. Ich strahlte sie an. “Zwei Studentenkarten bitte!” Den Geldschein hielt ich parat. Gelangweilt-routiniert erwiderte sie: “Macht so und so viel. Stehplätze.” Ich glaubte, meine Ohren spielten mir einen Streich. “Wie meinen?” Das Lächeln klebte mir an den geschminkten Lippen fest. “Die Studentenkarten sind alle Stehplätze. Hier, da oben-hinten, sehen Sie!” Sie tippte ungeduldig auf einen papierneren, von Eselsohren übersäten Saalplan. “Und gegen Aufpreis?” Mein Mund verzog sich mittlerweile zu einer Grimasse. “Gibt bloß die. Nix weiter da.” – Ok, warte, Moment, verstehe, man will die Kultur fördern, junge Leute in die vermeintlich aussterbende, völlig überalterte Klassik locken mit günstigen Tickets und ganz nebenbei kriegt man die Bude voll, denn Stehplätze und Mozart/Beethoven/Albinoni (keine Ahnung, was an Programm vorgesehen war), das paßt ja eigentlich nicht zusammen, gediegene Eleganz, Stuckdecken, Vergoldungen, roter Samt und zwei Stunden von einen Fuß auf den anderen wechseln (Mittanzen wäre ja nicht sonderlich gut angekommen)…

Wir landeten entgegen ursprünglicher Absicht in einer Bar am nahen Odeonsplatz, wo I. stocksauer am Strohhalm ihres Cocktails saugte. Sie hätte ja gehen können, sich die Stehkarte kaufen. Ich machte jedenfalls damals David Garrett verantwortlich (obwohl der gewiß anderes im Kopf gehabt haben dürfte als die Preisgestaltung seiner Veranstaltungsorte), diesen abgehobenen Schönling: so rasch kann ein Sar in jemandens Gunst (noch dazu der einer Frau) sinken… (Für den exponentiell gegen Null tendierenden Fall, daß Herr Bongartz das hier je lesen sollte: Sie schätzen doch „speziellen Humor“, wie Sie es im Konzert nannten? Bitte einfach den nächsten Absatz zu Gemüte führen, oder –  für das ganz dicke Lob – gleich Beitrag 213.)

Wenn ich mich nicht täusche, war dies 2007. Es mußten demnach 15 Jahre verstreichen, ehe ich ihm wieder eine Chance gab, angestoßen von einer Arte Dokumentation über seine Person, die die kürzlich erschienene Autobiographie sowie die aktuelle Crossover-Tournee promoten sollte (hat geklappt). Ja, er hat mich zum Weinen gebracht (vgl. Beitrag 213). Ja, mittlerweile hatte ich mein klassisch-musisches Erweckungserlebnis. Ja, er gefällt optisch noch immer. Aber was mich fasziniert, zutiefst beeindruckt, was mich morgens wie süchtig an die Lektüre fesselt an Zeilen, die von einem Ghostwriter stammen (prima Entscheidung! Nichts schlimmeres, als ein interessanter Mensch, der durch schriftstellerische Dilletanz sein Werk zunichtemacht, vgl. Beitrag 173), was mich anfixt, mich vor Aufregung beben läßt, mir imponiert, sprich, der Grund weshalb ich über ihn berichte hier im Blog: diese seine exzeptionelle Passion für das Instrument Geige, diese Könnerschaft im Identifizieren und Zuordnen bestimmter Exemplare, die Treffsicherheit hin zur Meisterschaft. Da jubelt die Kunsthistorikerin in mir! Ich habe nicht den blassesten Schimmer von Geigen, doch dieses Vergnügen, das man herausliest aus den Schilderungen, dieses Leuchten im Gesicht (während der Arte Aufnahmen), DAS, nur das suche ich in einem Menschen, es ist so selten und kostbar, materiell unbezahlbar, und obwohl ich, um es wörtlich zu wiederholen, nicht den blassesten Schimmer habe von Geigen, maße ich mir an, zu behaupten: ich verstehe ihn, verstehe ihn voll und ganz, einen Fremden, den ich nie sprechen werde, einen Unbekannten, der nichts ahnt von meiner Existenz und sich auch nie drum scheren würde. Mehr noch verdanke ich ihm eine Erkenntnis: was für ihn gilt – geigen geigen geigen!, oder eben: Geigen Geigen Geigen! -, das zählt gleichfalls für mich:

Schreiben schreiben schreiben. Schreiben. Wieviel Leuchten verglüht im Stillen, ungesehen, unbemerkt? Und doch ist es da. Leuchten, für die kurze Spanne eines Erdenlebens, aus sich selbst heraus, um seiner selbst willen.

In Kürze werde ich eine Konzertmatinée Kit Armstrongs besuchen: vielleicht verbringe ich die Morgen danach mit ihm im Bett…

 

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