219, Teil III: Im Zwischenreich

219, Teil III: Im Zwischenreich

München, Oktober 2022.

Was tue ich hier? Das zweite Glas Prosecco des Abends parkte zwischen den Fingern meiner rechten Hand, die andere ruhte in der Seitentasche der fließend geschnittenen, apricotgolden schimmernden Hose, damit sie nicht an den hauchzarten Seidenvolants der Bluse herumnestelten aus Verlegenheit. An den für München typischen Alleebäumen vorbei war ich geklappert, ein tintenblaues Dunkel durchmessend, von orangen Laternen berieselt, während das herrlich gelbe Lindenlaub unter meinen feminin beschuhten Schritten raschelte und kicherte, solch ein kindfrohes Geräusch! Den Hals reckte ich hinauf zu den imposanten Türmen des Heizkraftwerkes Süd, dessen rot blinkende Lichter ich noch nie so nah gesehen hatte: als ich den Kopf in den Nacken legte, um mir die Architektur genauer zu betrachten, kitzelten mich meine Ohrringe am Hals. Vom Garagenplatz des Blumengroßmarktes führte die Schäftlarntraße direkt auf die 2021 eröffnete Isarphilharmonie zu, geplant und erbaut binnen dreier Jahre, wobei eine nostalgische Trafohalle anno 1929 – Backstein, Rundbogenfenster, Walmdach – umgewidmet und um einen modernen Glaskubus erweitert worden war. Industrial Style Chic in Reinform, wie ich es bisher lediglich aus Magzinen kannte. Die Fassade wirkte auf mich charismatisch, versprühte Charme und Flair; das riesige Foyer innen war nüchtern gehalten, der Boden belassen worden: abgenutzt, fast schäbig, von verblichenen Markierungen der Lagerstätte gezeichnet, das es einst gewesen war, gelbe Markierungen, als befinde man sich noch auf einer Baustelle. Ein Lastenkran schien nur über Nacht abgestellt, bereit, am nächsten Morgen seinen Dienst fortzuführen. Mehrere Galeriegeschosse gliederten die Höhe. Garderobe, Information, Toiletten, zwei Snack- bzw. Ausschankbars. Obwohl ich viel zu früh dran war, herrschte bereits großer Andrang, Ottensamer und das Gulbenkian Orchester als Publikumsmagneten – oder handelte es sich um puren Kulturhunger? Die meisten Leute trugen indes Straßenkleidung: Jeans, Wollpullover… Ab und zu ein aufblitzendes Logo, ein Designer Key Piece, eine Dame im raffinierten Kleid; die große Galarobe fehlte: keine funkelnden Steine, glänzenden Pailletten, ausgefeilten Stoffe, drapierten Stolas oder aufregendes Make Up. Eine Gruppe junger Leute stach heraus aus der einheitlichen grauen Aufmachung, Mittzwanziger, die Fräulein von Kopf bis Fuß in Valentino gewandet, pink und glitzernd, Markenbotschafter vielleicht, Influencer recht wahrscheinlich. Ich ertappte mich beim Wunsch, mich ihnen anzuschließen. Obwohl ich geübt bin darin, unbegleitet Ausstellungen, Kinovorstellungen, Konzerte zu besuchen, fühlte ich mich plötzlich fehl am Platz. Ich wünschte mir jemandem zu reden; der zweite Sekt diente als Lückenfüller, als Ersatzhandlung.

Ein Mann in der raunenden Menge war so schön, daß es fast weh tat, ihn anzuschauen. Er unterhielt sich mit zwei Paaren, denen man den gesellschaftlichen Rang ansah, obwohl sie sich in Mimik und Gestik sehr zurückhaltend gaben – obwohl, oder besser: gerade deswegen… Der Mann trug einen offensichtlich maßgeschneiderten Dreiteiler aus exquisitem blaugrünbraunen Tweed, äußerst geschmackvoll in Farbgebung und Schnitt, dazu Hemd und Fliege. Ich könnte Menschen auffressen, die Stil und Eleganz (ohne Prestigesucht und Arroganz) ausstrahlen, und auffressen können hätte ich diesen Mann, also ging ich weg. Erst nach einem Drittel der Aufführung später im schwarzen Juwel – wie man den modernen, geschwärzten Holzsaal japanischer Ästhetik auch nennt – fiel bei mir der Groschen: es war Lorenzo Viotti höchst persönlich gewesen, gefeierter Jungdirigent, der mich da im Foyer so bezaubert hatte, nun in klassischem Schwarz-Weiß-Aufzug Orchester und Chor leitend, etwa 130 Musiker, eindrucksvoll in Bild und Klang; jedenfalls verzieh ich auf diese Art der nervtötenden Italienerin neben mir, die ihren verehrten Star regelmäßig mit einer elektronisch piepsenden Zoomkamera ablichtete, mit dem Smartphone sich vorbeugend filmte (mir die Sicht stehlend) und Braaaaaavooooo!!! schrie bis zur Heiserkeit, ich verzieh ihr die Minderung meines Konzertgenusses, denn die Herzen flogen in Reihen und Scharen diesem Mann zu, der die verschiedenen Stücke mit einnehmendem Akzent warmtönend anmoderierte – exakt jener Gentlemen, der auch mich auf Anhieb in seinen Bann gezogen hatte im Foyer einzig durch seine Erscheinung, Ausstrahlung. Ich glaube daran, daß echte Kunst, echte Musik Menschen hübsch machen.

Ich mochte den Neubau der Isarphilharmonie, ihr Ambiente, mir sagte Brahms zu und Vasks´“Agnus Dei“, die Chordreingabe der Fado-Sängerin (oh! Portugiesischer Fado!), ich hatte vom Rang aus hervorragenden Blick auf Ottensamer, Viotti, die meisten Spieler; ich hatte mich zurechtmachen dürfen (eben weil ein klassisches Konzert Gelegenheit dazu bietet), es war also alles wunderbar, wunderbar eigentlich, denn ich verkrampfte seelisch wie körperlich, unfähig einzutauchen in die Musik (gewiß auch dem Kameragepiepsgesurre neben mir geschuldet), und statt eines erhebenden Gedankens durchgeisterte mich immerzu nur ein und derselbe Satz: Was tust du hier?!

Ich lebe in den Zwischenreichen, nirgends gänzlich heimisch. Mir fällt dann oft Adolf Menzel ein, einer der ersten Genremaler, denen Fabrikarbeiter der Massenindustrialisierung sujetwürdig gewesen waren. Menzel, untersetzt und leicht behindert, zu seiner Zeit nicht den Schönen zugehörig und daher in die Studierrolle gedrängt. Menzel, der hinschaute, Menzel, der sah, ohne gesehen zu werden. Als Beobachtender wird man nie Teil der Szene, man verbleibt naturgemäß außerhalb. Man kriegt viel mit auf diese Weise, doch gibt es keinen, mit dem man sich austauschen könnte darüber: man selbst wird nicht wahrgenommen. Schatten, Geist, suchende Seele.

 

Illustration zeigt eine Büste des frühen 19. Jahrhunderts

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