168 Ghost Light

168 Ghost Light

München, April 2021.

Was wundert mich der Frühling in meinem Blut? Er spult sein Programm ab, unbeirrt und konstant, ein wenig spät zwar heuer aufgrund der relativ kühlen Witterung bisher, und trotzdem schreitet er voran. Eine Schlehenwand, die aufspringt, Kügelchen aus eierschalenfarbenen Fäden, milde duftend, süß und bienenfromm. Ein Flecken dunkelster Veilchen, nicht wasserlila, sondern violett-schwarz, appetitlichste Lakritze. Bimmelndes Lungenkraut, über welches dicke Hummeln troddeln.

Auf einer breiten Stufe am geschlossenen Nationalmuseum saß ich, der Himmel strahlte bayerischblau mit Rauten aus Sahnewolken; eine Nußschnecke verspeiste ich, während durch das Rauschen der nahen Prinzregentenstraße das typische Gellern drang, mich erstaunend, aber ich wußte ja, wo ich zu suchen hatte, weit oben nämlich, wo sich der winzige beige-braune Fleck dann wie angenommen als Falke entpuppte: unter der schweren Metallglocke des Gebäudes hockte er. Ich musterte die Fassade, die imposanten Bronzelöwen, beritten von ernsten Putti, musterte die überreiche Ornamentik der Giebel und Ghirlanden, in den Stein gehauen, zu beeindrucken. Warm blinzelte der April nieder, alles in Wohlgefallen packend. Da! – er stieß auf, der Falke, im Flug unzweifelhaft zu erkennen, die Flügel hielt er kräftig ausgebreitet, den Schwanz gespreizt. Er drehte Runden, sich harmlose Jagden mit zwei weiteren Artgenossen liefernd… Spontan stellte ich mich an die Brücke der Eisbachwelle, wo unter mir die Surfer links und rechts der Uferbestigung aufgereiht standen. Einen Turnus lang sah ich ihrem Können zu, ihrer Freude, dem Eifer, auch ersten Versuchen, die im Grunde mehr zu beklatschen sind als Sprünge und rasante Wendungen und Fußwechsel. Was war ich früher unter dem prächtigen Baum verweilt, hatte das Wasser gerochen, seine Wirbel studiert (und ja freilich, auch die sportlichen Männer), stundenlang, an unbeschwerten Sommertagen, im kältesten Winter bei Schnee! Und nun genügte mir ein Turnus von etwa zwanzig Leuten, ehe ich wieder aufbrach – alles hat seine Zeit; Zeit der Sehnsucht und Wünsche, der Hoffnung, des Vergnügens, Zeit der Enttäuschung und Resignation, Versöhnung, der Milde und Zufriedenheit. Mir sind die Surfer des Eisbachs nun ein Stück Münchener Kulturgut, ein kleiner Teil der Stadtidentität, ein Ort, den ich noch immer liebevoll im Herzen trage, Heimat.

Ja, auch dort kehrte ich heim: als ich die erste Ausstellung seit über einem Jahr besichtigte (da dies kurzfristig möglich), kehrte heim in die Welt der Kunst, Kreativität, des handwerklichen Geschicks und Feinsinns: mich überwältigten die Emotionen bereits im ersten Saal der fantastisch konzipierten Schau, die sich der Couture Thierry Muglers widmete. Traurigkeit befiel mich, die ich nicht sogleich zu enträtseln vermochte; zum einen die ewige Triade, keine High Fashion – Maße aufzuweisen, doch wurzelte die Melancholie, die mich schattenhaft begleitete indes eher in der Verlorenheit; sollte es nicht selbstverständlich sein, Kulturerfahrung zu machen, in ein Museum zu gehen, ins Theater, Kino, die Oper? Günter Kunert fiel mir ein: “ Als unnötigen Luxus/ Herzustellen verbot was die Leute/ Lampen nennen/ König Tharsos von Xantos der/ Von Geburt/ Blinde. ” Ranickis deutsche Lyriksammlung hat mich durch die letzten Monate gebracht.

Und schließlich John Neumeiers Ghost Light, Ballettchoreographien, die auf eine alte us-amerikanische Bühnentradition verweisen, wo immerzu eine einzelne Glühbirne brannte, wenn die Darsteller sich nicht auf der Bühne befanden – für mich das großartigste uminterpretierte Symbol für diesen erzwungenen Stillstand künstlerischer Arbeit und untersagter sozialer Interaktion. Die Aufzeichnung des Stückes stammte aus dem Baden-Baden des Sommers 2020, wobei die Pas de Deux von tatsächlichen Lebenspartnern getanzt wurden, um Maßnahmen und Regularien einhalten zu können, so las man im Abspann. Trotzdem hatte man es schon zuvor gespürt, gesehen, erlebt, diese grenzenlose Zärtlichkeit, Vertrautheit, Leidenschaft der Paare, man hat gebebt und mitgefühlt, da war so viel Menschlichkeit, Verletzlichkeit, Zuneigung in der Luft, in der Choreographie, ich mußte weinen, so gerührt war ich, bewegt und abgeholt. Oh, ich vermißte ein Publikum um mich herum, die Damen in ihren schimmernden Roben, angetan mit funkelndem Schmuck und aufwendigen Frisuren, die distinguierten, galanten Herren, vermißte den Goldglanz des Stucks, den Zauber opulenter Kristallüster, den perlenden Sekt zur Pause, vermißte sogar das Schlangestehen vor der Toilette, wenn alle einen prüfenden Blick in die großen Spiegel werfen, die aufgeregten Mädchen mit Dutt und strahlenden Augen, die sich gerade haltenden Seniorinnen, denen man anmerkt, daß sie selbst einmal Ballerina gewesen waren. Ich vermißte die stickige Luft, das stete Husten, Räuspern, Hüsteln, das besondere Geräusch des schweren, samtenen, fallenden Vorhangs, den tippelnden Wechsel des Bühnenbildes, die Staubkörnchen im Scheinwerferlicht, den Applaus, die Bravorufe – meine Bravorufe! -, Gott, wie vermißte ich das, während ich vor dem PC Ghost Light aus der Arte Mediathek streamte.

Und trotz allem pocht der Frühling mir im Blut. Ich kucke in Gesichter, ob sich eines vielleicht mir zuwendet. Eines, das auch die Schlehen sieht und die Turmfalken, die Surfer und Künstler und Tänzer, eines das überhaupt etwas ansieht, das kein technisches Gerät ist.

Derweil liegt der Hund u-förmig gekrümmt auf dem Rücken, die Lefzen glücklich verzogen, gelegentlich herüberblinzelnd, völlig im reinen mit sich und seinem Leben und der ganzen weiten Welt, liegt wohlig da und steckt mich an mit seiner Zufriedenheit.

 

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