142, Teil I: Pause am Fluß

142, Teil I: Pause am Fluß

München, August 2020.

In meiner wunderschönen Küche – Erle massiv, jade-türkisene Metrofliesen, ein Arbeitsplattenkunstwerk aus Marinace Verde – schmurgelt und blubbert es verheißungsvoll in drei riesengroßen Töpfen: gelbe Zucchini aus dem Garten, Möhren, Kartoffeln, Olivenöl, Salz. Und 2,7 Kilo Hähnchenbrust. Genau zwanzig Jahre ist es her, daß ich mich dazu entschied, auf Fleisch zu verzichten, und nun bereite ich das Hundefutter vor, weil Montana nicht ein einziges der fertigen Produkte verträgt, seien es Dosen, seien es Trockenpellets, sei es Tierarzt-, Baumarkt-, Edel- oder No-Name-Marke, sei es Monoprotein oder ein Mix aus Lamm, Känguru, Pute, sei es mit Chiasamen, Cranberries, Pastinake oder auch nichts davon – das Hundchen wird krank. Also begebe ich mich an den Herd, um die Portionen einer Woche fertigzustellen, damit Montana Banana (der Spitzname verweist auf eine Gourmetvorliebe) gut versorgt ist, während ich Andorra bzw. die französischen Pyrenäen erwandere. Der Erlös vom Verkauf meines 17 Jahre alten Ford StreetKa Cabrios vor ein paar Wochen hatte ziemlich exakt die binnen etwa eines Jahres angefallenen Kosten ärztlicher Versorgung meines Boston Terriers gedeckt – ich glaube, Amortisieren ist nicht ganz das gleiche. Es entbehrt durchaus nicht einer gewissen Ironie, daß ich für meine Gäste keine Fleischgerichte auf den Tisch bringe (ein gebratener Leberkas und Weißwürste einmal ausgenommen). Ja, meine Reisevorbereitungen haben sich definitiv geändert, doch sind sie das einzige, was sich gewandelt hat in der letzten Zeit? Ich horchte hinein in mich. Wenn man in seinem Leben nicht zu Hause ist, fällt es schwer, Antworten zu finden auf Fragen, die vage und diffus bleiben, flatterhaftes Echo einer drängenden Unbestimmtheit.

 

Andorra, August 2020.

Ich nenne es gerne Bedürfnisflutschen: zuerst verspüre ich Hunger, den ich stille, gefolgt vom Durst, hernach ist es die drückende Blase, die Aufmerksamkeit einfordert. Endlich, es mögen zehn Minuten vergangen sein, spricht nichts mehr dagegen, sich einzulassen auf den Ort, auf den Raum im Hier und Jetzt.

Die Sonne stand in steilem Winkel, sodaß sie in die schmale Schlucht flutete, sie überstrahlend; ich roch die feuchten Felsen, bewährt mit Farnen, Gräsern, zuweilen Bäumchen: Birken, Ebereschen, an denen rotorangen die Vogelbeeren hingen. Es raunte und plätscherte unentwegt, ein nicht abreißender Strom an Geräuschen, Wirbeln, Wassermassen, die der schmale, namenlose Fluß vorüberwälzte, heiter, kraftvoll, unentwegt, haltlos, ohne Rast. Auf einem großen, bequemen, wie für mich geschaffenen Stein sitzend sah ich auf die weißen Schaumschlieren, die aufgewirbelten Sauerstoffbläschen, die immerfort Muster und lang gezogene, hüpfende Bilder formten. Gelegentlich tauchte ich die Beine bis zu den Knien unter die Oberfläche, mir auf die Lippen beißend, denn das Naß war ungeheuer kalt und tat sogleich weh. Ich mochte es, die Tropfen zu beobachten, die nach dem baldigen Herausheben über die helle Haut perlten, glitzernde Sternchen sprühend. Durch harzduftenden Nadelwald auf uralten Bergmannspfaden waren wir aufgestiegen, die Blicke immer wieder frei werdend auf gegenüberliegende Massive, flechtenversehen, kubische Splitter, wie sie van Gogh inspiriert hatten, Cézanne, Braque.

Berstendes Blau überschüttete die Wiesen, Eisenhut noch und nöcher, er zog sich die Hänge hinauf, verflocht sich mit gebleichtem Totholz, Himbeerbüschen, alten Engelwurzstauden. Daß Johanniskraut gut bei Depression sei, verkündete eine Tourteilnehmerin, auf ein winziges, gelbes Pflänzlein deutend. “Eisenhut auch.” ergänzte ich geschwind; entweder fand man den Scherz nicht lustig oder aber hatte ihn nicht verstanden, mein Kommentar wurde ignoriert. Ich merke selbst, daß ich zunehmend bissiger werde, ab einer gewissen Anzahl harter Erfahrungen bleibt das nicht ganz aus. Unfreundlich, kalt, anspruchsvoll, unerbittlich, wankelmütig, nörglerisch, eine Auswahl an Adjektiven, die mir gehäuft begegnen. Der Fluß trug sie hinfort, schwemmte sie einfach weg. Eine Art Ewigkeit säuselte, gurgelte in ihm, Trost, Ruhe, Genügsamkeit grüßten schwappend. Dieser Ort: ein erwärmter, rauer Stein, eine urig bewachsene, schmale Schlucht, ein hopsender Wasserlauf, sie waren meine Freunde, sie waren, wer mich wirklich erlebte: mein echtes, wahres Ich ohne all die kulturellen, sozialen, biographischen Verzeichnungen. Als der Guide mich von der Biegung her rief, zum Aufbruch mahnend, erhob ich mich voll des Dankes und verabschiedete mich von dem Raum, der mich aufgenommen hatte, mir Asyl geboten für eine halbe Stunde, verabschiedete mich mit einer Verbeugung, lächelnd und glücklich.

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