130 Action Girl

130 Action Girl

München, April 2020.

Action Girl nennt meine Tante mich, die einst mit Anfang zwanzig in die USA ausgewandert war, um in Texas ein vegetarisch-koscheres Lokal zu betreiben (sie selbst ist Christin), eine Farm zu bewirtschaften (inklusive Rindern, Truthühnern, Gänsen, Ziegen und eines halbzahmen Rehs namens Ruppie), selbst gebackenes “German Vollkornbrot” zu verkaufen und Keramikkünstlerin zu werden.

Aktuell bleibt das Action Girl auf den Kosten sitzen für: ein klassisches Klavierkonzert, das von Fotoimpressionen begleitet das Thema Wald kreativ in Musikalität übersetzt hätte; ein zum vorhergehenden Weihnachtfest verschenktes Trommelkonzert japanischer Interpreten (das heißt also gleich zwei Karten futsch); eine Literaturlesung in meiner alten Heimat Schwabing; einen Vortrag des Bergsteigers Messner über dessen “Schicksalsberg Nanga Parbat”, ebenfalls als Präsent gedacht gewesen; die Flüge nach und von Wales. Sämtliche Gartentage gestrichen, Jahrmärkte, Volksfeste, Dulten. Reiseverbote schließen auch Ausstellungstouren mit ein: in Halle würden Lagerfeld-Fotografien gezeigt, in Paris Louboutins Kreationen; die Mumien zu Palermo riefen – ach, Action Girl! Es klingt oberflächlich angesichts der generellen Konsequenzen, die uns die Zeit demnächst bringen wird? Oh, zweifellos.

Ich weiß, mein Umfeld hält mich gerne für langweilig (kein x-Tausend-Follower-Account, der mir einen Wert verleihen könnte gesellschaftlicher Art) oder abgehoben (weil ich gerne mit Hochsteckfrisur und rot geschminkten Lippen auf Gassirunde durch Wald, Feld und Dorf gehe), vergnügungssüchtig (vier bis sechs Reisen pro Jahr; Party-Alkohol-Exzesse, wochenlange Strand-Sonnenbäder, ausgedehnte Shoppingtouren: Versace, Chanel, Dior, jeden Tag ein anderer Mann; der Leser wundert sich? Man sagt Sarkasmus dazu, ich hoffe, man ist mittlerweile vertraut genug mit mir und meinen Erzählungen).

Ich erwache nachts und kann nicht wieder schlafen; ich denke an die Massenarbeitslosigkeit, auf die wir zusteuern, in Deutschland wie in Europa und der Welt. Ich denke an die indischen Tagelöhner, die ihr Haus nun nicht verlassen dürfen, um sich die Portion Reis zu verdienen, die sie zum Überleben brauchen; ich denke daran, daß (auch vor Corona) jeden einzelnen Tag 100.000 Menschen sterben, weil sie verhungern. Ich denke an den großen Brand in der Sperrzone Tschernobyls, bei welchem mindestens 20.000 Hektar Wald zerstört worden sind: Biomasse, in der radioaktive Substanz gespeichert gewesen war und die nun in die Luft entweichen konnte, keine 18oo km entfernt. Ich denke daran, daß nicht medienkonforme Meinung grundsätzlich eine “paranoide Verschwörungstheorie” birgt und Kritiker (z.B. eine Medizinjuristin) in Psychiatrien zwangseingewiesen werden, weil sie “einen verwirrten Eindruck machen” und “vor sich selbst geschützt werden müssen”, so wie Herr Mollath, falls man sich erinnert. Ich denke daran, daß man von uns “Gehorsam erwartet” und niemandem auffällt, daß wir diese Formulierung zuletzt vor über achtzig Jahren unbesorgt in Gebrauch hatten. Ich denke an die mehrere Millionen Flüchtlinge – völlig ungeachtet der politischen Ansicht in der Frage insgesamt -, die sowohl aus- als auch eingesperrt sind und in unwürdigen Lagern auszuharren gezwungen. Ich denke daran, daß das Eis des Nordpols als verloren gilt. Ich denke an so viele Dinge und frage mich, ob ich wirklich allein bin damit, oder ob auch andere – vielleicht gar eine Mehrheit – einen weltweiten Systemwechsel befürchten voller Repression, Willkür und Krieg.

Ich wünschte, man würde mich als pathetisch beschimpfen und pessimistisch, als nörgelnden, übertreibenden Schwarzseher, und vor allem wünschte ich von Herzen, daß man recht behielte damit, denn das Action Girl hat Angst. Diese Angst wird versteckt hinter Beschwerden über zunichtgemachte Reisepläne und nicht wahrgenommene Veranstaltungen. Ich bete, daß wir uns unseren Frieden bewahren mögen und unsere Kraft, auch wenn der multiresistente Keim aus den Mast- oder Biogasanlagen eintweichen sollte, oder Ebola es aus den Kongo herausschaffen, oder Fukushima (oder ein anderes Atomkraftwerk) endgültig hochgehen. Ich habe Angst, lieber Leser, sogar Angst, diesen Beitrag zu veröffentlichen. Ich tue es, weil ich mich verpflichtet fühle, aktuelle Berichte und “Tatsachen” in Relation zu setzen zu dem, was ich im letzten Jahrzehnt unterwegs auf Touren durch die Welt gesehen habe als Augenzeuge der großen, tiefen Armut, des Überlebenskampfes, Cholera im Jemen, verendete Ratten im Müll auf den Straßen Kathmandus, Unterernährung in Äthiopien. Wir haben alle unsere demokratischen, hart erfochtenen Werte aufgegeben (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit etc.) aus mangelndem Wissen über biologische und historische Grundkenntnisse. Es soll nicht mißverstanden werden: jedem einzelnen tatsächlich an Corona Verstorbenen sowie dessen Familie und Freundeskreis gebührt mein Mitleid und Bedauern; aber das, was wir mit Aktionismus und bedingungsloser Gefolgschaft ausgelöst haben, wird in den nächsten Monaten und Jahren unendlich viel mehr Leid, Not und Unglück in die Welt bringen, als das Corona-Virus es selbst verursacht. Das tägliche Gift in Lebensmitteln, Kosmetika, Kleidung, Möbeln interessiert nicht, die toxische Durchtränkung des Körpers, der Umwelt im Laufe der Jahre und Dekaden, der Fakt, daß nach momentanen Zahlen durchschnittlich jeder zweite Deutsche einmal an Krebs erkranken wird, dies alles wird als gegeben und unabänderbar hingenommen, als “alternativlos”, aber ein Virus, mit dem man sich genausowenig beschäftigt hat wie mit den anderen erwähnten Dingen, solch ein Virus erklärt man zur absoluten Gefahr für sich und seine Mitmenschen, die Menschheit schlechthin.

Die Aufstände und Proteste 2019 in Hongkong, Chile, Argentinien, Venezuela, Brasilien, die Friday-for-Future-Bewegung der Jugend international haben in ihrer Masse eine Bedrohung für die Konzernherrschaft und Machteliten dargestellt. Ein Status Quo hat auf lange Sicht vermutlich nicht gehalten werden können – es herrschte zu viel Freiheit: Freiheit zum Widerstand, zum Aufbegehren, zur Korrektur von schädlichen Verhaltensweisen. Nun ist es still geworden und konform in der Welt – die Ruhe vor dem Sturm? Ich erwache nachts und flehe, ich täusche mich und sei versponnen in Paranoia. Ich möchte glauben, daß wir den Weg des Friedens und der persönlichen Freiheit weitergehen und daß es nicht wahr ist, daß man in der deutschen Politik über die Einführung der “Rettungsfolter” – was immer das sein soll – diskutiert. Ich mußte das loswerden, gerade auch im Bewußtsein, daß Leser sich angegriffen fühlen mögen, doch ich kann es nicht ertragen, wenn es später wieder einmal in der deutschen Geschichte heißt: “Warum habt ihr geschwiegen?”

Das einstige Action Girl widmet sich dem Garten und Gemüsebau sowie den Erinnerungen an Eindrücke, Reisen und Begegnungen in der Hoffnung, daß dies nicht das einzige sei, was von nun an bleibt. Und es hofft, nicht zwangseingewiesen zu werden, bedroht und enteignet irgendwann. Denn wer zahlt die allein in Deutschland binnen eines einzigen Jahres entstandenen Staatsschulden von über 1 Billion (=1000 Milliarden = 1000 000 Millionen) Euro?

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