121 König

121 König

München, Dezember 2019.

Fünfzehn Jahre nach Ende der Schulzeit befiel mich noch immer Herzrasen, wenn ich eine frühere Klassenkameradin traf (vgl. Beitrag 4). Lächerlich!, schalt ich mich unlängst. Ich hatte die junge Frau in der Menge sofort wiedererkannt. Leute unterhielten sich mit Bierflaschen in der Hand, kleine Snacks zu sich nehmend, andere nutzten die Pause der Veranstaltung, um die Toilette aufzusuchen. Ich atmete tief durch, straffte die Schultern und schritt lächelnd auf besagte Person zu, um sie zu grüßen und ein paar Worte zu wechseln. Beinahe angelangt, ging ein Zucken durch ihr Gesicht, für Sekundenbruchteile nur, ehe sie sich abwandte.

Ghosting nenne man es, erklärte mir eine Freundin, wenn Leute unvermittelt und zur Gänze einen Kontakt abbrächen, ohne ersichtlichen Grund, bar jeder Erklärung.

Ich glaube eher, das Fantom bin ich.

Es war eine Geisterstadt. Der Hof war leer, die Balkone, die Fenster, und selbst der Regen versiegte, dieser merkwürdige Regen, sanft und dicht zugleich, und wo zuvor ein grollendes, dunkles Grau gestanden hatte, versank nun eine schwache, schemenhafte Sonne hinter den Häuserdächern. Ab und zu ein elektrisches Licht, unwirklich inmitten dieser Reglosigkeit. Plötzlich dröhnte es, fern und doch ganz nah, die ersten Akkorde einer Musik erklangen, ein Bandkonzert, gespielt vielleicht auf der Münchner Freiheit. Kein Applaus, keine Stimmen, keine anderen Hörer, die sich wie sie neugierig geworden zeigten. Sie öffnete das Fenster, kühl schlug die Luft ihr entgegen, und sah hinaus in die Stille, die nichts anheimelndes hatte und auch keinen Frieden barg. Die Menschen, wie sie auf den Straßen herumwuseln, in den Läden und Cafés, sind nichts als Gespenster, die einander nicht wahrnehmen, nicht sehen und spüren. Sie wissen nichts von einander. Es ist eine Geisterstadt, und sie ist ihr König. Sie – das bin dann wohl ich.

Viele Menschen berichten, sie hielten sich gerne in der Natur auf, weil diese sie nicht bewerte, sondern annehme in ihrem ganzen, unverstellten Wesen. Keine Maske, keine Rolle, keine Kritik, bloß reines so-sein-Dürfen, pure, bedingungslose, absichtsfreie Existenz. Ich glaube nicht, daß es das ist, was einen in die Natur treibt. Ich meine eher wahrzunehmen, daß Natur Resonanz erzeugt, immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jedem einzelnen von uns. Ein Widerhall, nach dem wir uns alle sehnen und welcher viel zu oft ausbleibt: die dunkle Seite des Phänomens Stille.

Jetzt zu Weihnachten bin ich mit denen, die nicht einen Einzigen um sich haben, absolut niemanden; und egal, ob ich gläubig bin oder sie es sein mögen, ich schicke ihnen ein kurzes, warmes Gebet.

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