90 Nach Pico

90 Nach Pico

Azoren, Juni 2012/ München, Juni 2019.

Es geht um das reine, tiefe Empfinden. Nur darum geht es. Auf jeder Reise, während jeden Ausflugs suche ich das Tor, das zurückführt hinein in diese Erfahrung unbeschreiblicher Versenkung, von der ich glaube, daß nur sie es ist, die uns von Tieren und Pflanzen unterscheidet. Es ist ein Zustand des Aufruhrs, der Erkenntnis, beinahe maßlos in seiner Intensität und dennoch voller Frieden und Glück. Nur wer weiß, wovon ich spreche, der kann auch verstehen, warum ich in meinem Leben immer und immer wieder darauf komme: auf eine kurze, recht oberflächliche Begegnung ohne nennenswerte Ereignisse, eine Begegnung, die ich mal feiere und mal verdränge, der ich danke, um sie zu verfluchen, die ich leugne, ehe ich sie hervorkrame, sie ausschmückend, umgestaltend in die inneren Bilder eines Was wäre gewesen, wenn?, oder Was wäre, falls?, für deren Auslegung ich mich schäme, nur um dann stolz das Kinn zu recken und dazu zu stehen. Manchmal frage ich mich, wo ernsthaft krankhafte Züge beginnen, was man schlicht hoffnungslose Romantik, Tagträumerei, Realitätsferne nennen kann, ich amüsiere mich über mich selbst, schelte mich, behandle mich mit Nachsicht und Fürsorge, greife hart durch, indem ich beschließe, es komplett und ewiglich zu streichen, bis ich mir einen kleinen Gedanken daran gestatte, eine Erinnerung genehmige.

Wenn er ein einziges Mal gesagt hätte: Nein! – aber vielleicht hat er das, und ich konnte es nicht wahrhaben? Und was hätte ihn interessieren können an mir, die ich mittelmäßig aussehe und – nein, nein, wie habe ich überhaupt je annehmen können, daß er – ach, vergessen wir das. Ich habe überhaupt gar keine Ahnung, was Liebe ist. Sachlich-biologisch gesehen, evolutionär freilich schon, gesellschaftlich-sozial. Verkucken tu ich mich häufig, Schwärmen gelingt rasch, es braucht nicht viel, ein sanftes Schimmern in den Augen, ein neckisches Grübchen beim Lachen, eine wohlgeformte Hand, eine angenehme Stimme, ein interessanter Beruf, Anzeichen von Abenteuer und Kultiviertheit in einer Person vereint, zack, bin ich hin und weg und wochenlang, in gelegentlichen Fällen monatelang, nicht zu gebrauchen, bis ich aus dieser euphorischen Trance erwache, frei gespült von Endorphinen und Hormonen. Aber Liebe? Andererseits würde es ihn gewiß entsetzen, daß dieses Nichtloslassenkönnen von ihm als Fremden in das Wort „Liebe“ gekleidet würde, wo man nichts weiß von einander. Ich war mir sicher kürzlich, zu 1000 Prozent, daß ich ihn auf gar keinen Fall, unter keinerlei Umständen!, je wieder würde treffen wollen, obwohl ich damals bei der Verabschiedung gesagt hatte: „Man begegnet einander immer zwei Mal im Leben!“, es als Self Fulfilling Prophecy meinend, fast hexerisch beschwörend. Ich habe so viele Szenarien durchgespielt im Laufe der Jahre, sämtliche Varianten erörtert vor mir selbst: daß er mich gar nicht mehr erkennen würde auf der Straße, daß wir freundlich-kameradschaftlich miteinander schäkerten, Witze reißend, daß wir gemeinsamen Expeditionen angehörten, uns zufällig über den Weg liefen auf Fotofestivals oder in irgendeinem Flughafenterminal dieser Welt, daß ich ihn erzürnte und lästig fiele, entnervte, erboste, ich ihm gleichgültig sei, er sich nicht daran erinnere, mich je erblickt zu haben, daß er auf weitere Zeilen warte, obwohl er nicht vorhabe, sie zu beantworten… Ich dachte, ich müßte hübscher sein, äußerlich, innerlich, anmutiger, erfolgreicher, in irgendeiner Form besser. Er würde meine Fotografie wohl nicht mögen, weil sie sich so sehr von der seinen unterscheidet, würde mein Leben nicht mögen aus dem gleichen Grund. Wäre ich ihm lästig wie Schnaken? Ekelte ich ihn wie Scharben? Saugte ich ihn aus wie Blutegel? – Darf ich ihm diese Frage stellen, diese eine, nagende, beinahe selbstherrliche Frage: Sag, denkst du an mich? Manchmal? Bin ich in deinen Gedanken, hier und da? Würdest du mir den Vogel zeigen, wenn ich die Gelegenheit hätte, dich das zu fragen? Hast du die Briefe im Müll entsorgt, gar ungelesen? Befürchtest du, ich spionierte dir hinterher im Internet (tue ich nicht), „lauerte“ dir auf auf gängigen Veranstaltungen (ebensowenig)? Ich hätte sogar auf den vorfreudig erwarteten Fricke-Vortrag verzichtet, nur weil der deine zeitnah am selben Ort – mein Geburtstort, vergiß das nicht – stattgefunden hätte, aber beides wurde gecancelt, das Schicksal machte die Entscheidung obsolet. Ich weiß nicht, wer ich bin, weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nur, daß in jenem Juni vor sieben Jahren eine andere, verwandelte Frau von einer simplen Touri-Tour nach Hause zurückgekehrt ist, zu einem ruhelosen, suchenden, sehnsuchtsvollen Geist geworden, der Frieden (oder eine Ahnung davon) im Ozean findet, dem vermutlich einzig gemeinsamen Nenner, den wir beide haben, zusammen mit Millionen anderen Menschen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert