84 Es hat gerufen

84 Es hat gerufen

München, Mai 2019.

Nazaré – welch prophetisch-lockender Name… Ich hatte nie davon gehört, bis ich diese graue Gewaltwand aus unvorstellbaren Wassermassen sich auftürmen und gegen beinahe filigran anmutende Steilklippen prallen sah, platzen, donnern, explodieren auf der Leinwand des großen Cinemaxx-Kinosaals. Wellen von bis zu dreißig Metern vor der Küste Portugals, etwa eine Stunde nördlich von Lissabon entfernt gelegen, Wellen, die seit 2011 von Surfern genommen werden – der momentan bezeugte Rekord steht bei etwa 26 Metern -, Ameisen auf Streichhölzern, die den übel gelaunten, brüllenden Ozean reiten, surreal, wahnwitzig, menschlich in seiner Suche nach Grenzen, nach Auflösung des bisherig Möglichen. Nazaré, das bedeutet mittlerweile auch „Szene“, Surfspot, Touristenmagnet, an manchen Tagen harren bis zu 1000 Menschen oben am Aussichtspunkt aus, um das Spektakel im kalten Wind aber vollkommen sicher beobachten zu können (die gigantischen Wellen entstehen nur in den Wintermonaten), ganze Busse entladen sich, Instagramer werden plötzlich angezogen wie Motten vom Licht. Nazaré: was will ich dort?

Aus der Badewanne duftete es dezent nach Fichtennadelöl, während draußen vor dem regengrauen Fenster ein leuchtendes, junges Frühlingsgrün von Graupelschauern bombadiert wurde. Ich schmökerte leise plätschernd im Männermagazin, das ich gelegentlich am Kiosk erstehe – nein, nicht solcher Art, wie das für gewöhnlich klingen mag; ich meine die Free Men´s World, die mit dem Motto wirbt: „Abenteuer gibt es noch“ und aus der ich zum Beispiel erfahre, daß man in Norwegen mit Orcas schnorcheln gehen kann oder an einem Segeltörn durch die Küstenwildnis Westkanadas teilnehmen oder einsam trekken durch den Urwald des Virunga-Gebirges; man liest über Höchstleistungen des menschlichen Körpers, skurrile Ideen und völlig unverkopfte Projekte, enge Freundschaften voller Wagemut und Vertrauen in den anderen, spontane Ausbrüche aus dem Bekannten, alberne Verrücktheiten: Dinge also, die meinem Lebensalltag diametral entgegengesetzt sind und daher so ungemein erfrischend wirken, selbst wenn sich der Kontakt dazu auf eine Lektüre in der Badewanne beschränkt. Ich blätterte um, Ausgabe März bis Mai 2019, Seite18 bis 28: „Ein Ort der modernen Tragödie. An guten Tagen bricht sich dort jene Welle, die sie als ozeanischen Kanonenschlag bezeichnen„, ein Artikel über Nazaré.

 

München, August 2011.

Als erstes vernahm ich das Tosen. Und noch bevor ich einen einzigen Blick auf einen der Surfer erhaschen konnte, fielen mir all die Menschen auf, eine ganze Traube mir zugewandter Rücken, Angereiste mit beeindruckenden Spiegelreflexkameras, die eifrig klickten, einheimische Müßiggänger, Rentner, Jugendliche, Frauen, überall junge, kichernde Frauen, vor Vergnügen johlende, in die Hände klatschende Kinder. Der ganze ziemlich enge Platz vibrierte unter einer begeisterten, friedlichen Spannung.

Mitten in der Stadt wälzt sich eine kleine aber mächtig brechende Wasserwoge über eine unsichtbare Schwelle, direkt unter der steinernen Brücke am Haus der Kunst. Brodelnder Schaum, der nach Salz und Bergen riecht, weiß wie Schnee, hüpft auf dem Grün des davon schießenden Wassers. Eine mächtige Kastanie umspannt das eine Ufer, und an der Betonbefestigung zu beiden Seiten der Welle stehen sie artig Schlange: die Surfer (insgesamt in München angeblich etwa 2000). Im Wechsel zeigen sie ihr Können, stets nur einer von ihnen nimmt den quer verlaufenden Kamm, die anderen haben zu warten. Manche sprühen vor sportlichem Ehrgeiz, andere scheinen eher versunken in ihr Tun und konzentriert auf die Kraft des Wassers, wieder welche lechzen offensichtlich nach der Aufmerksamkeit der Zuschauer; manche surfen einträchtig den Gesetzmäßigkeiten der Welle folgend, ihre Bewegungen sind harmonisch und ihr Körper wie schwerelos. Andere surfen stattdessen gegen die Welle, wollen sie entthronen, bezwingen, und diese Surfer wirken trotz ihres gewiß großartigen Vermögens irgendwie aggressiv und angestrengter. Die Anfänger jedoch, die wackelig und bloß sehr kurz auf ihren Brettern stehen, bewundere ich fast am meisten für ihren Mut, unter der Vielzahl der neugierigen Augen und typisch-kritischen Münder erste Versuche zu wagen.

Im Schatten der Kastanie sitzend genoß ich die braungebrannten Oberkörper der überwiegend männlichen, überwiegend gut gebauten Surfer, die Bewegung der Arme, Beine, das Spiel ihrer Muskeln und Sehnen, das mich an Ballettchoreographien erinnerte. Zu meiner Überraschung erkannte ich manche der Surfer aus dem Vorjahr wieder; einer darunter war hellblond, von schlanker, schmaler, deutlich trainierter Figur und besaß ein ebenfalls schmales Gesicht, in das immer wieder die mittellangen Strähnen seiner Haare fielen. Thor Heyerdahl, schoß es mir unwillkürlich durch den Kopf. Ich hatte eigentlich lediglich eine vage Vorstellung von dem Aussehen des norwegischen Abenteurers und Ethnologen, doch der Typus, die Ausstrahlung des mir unbekannten jungen Mannes bewogen mich dazu, ihn insgeheim Thor Heyerdahl zu nennen.

Ich kuckte wie alle anderen um mich herum, Touristen, Fans, weibliche Bewunderer, und im Kucken verging die Zeit. Erst viereinhalb Stunden später – als ich aufs Klo mußte – verließ ich die wundersame Stelle im Herzen Münchens, die ich damals regelmäßig aufsuchte, um etwas zu finden, von dem ich nicht wußte, was es war.

 

München, Mai 2019.

Ich buchte meine 35-Quadratmeter-Ferienwohnung in Nazaré für Ende November gleich nach dem Fichtennadelölbad, nicht der zweifellos beeindruckenden Surfkunst wegen, die dort zum besten gegeben wird. Ich buchte, weil sich damals im Kino während der Ocean Film Tour Volume 5 etwas eingebrannt hatte in mir, das man als Ruf bezeichnen könnte und an das mich der Bericht in der Free Men´s World wieder ermahnt hatte. Es brüllte nach mir, das geifernde, gewalttätige Meer, ich mußte es einfach spüren, hören, schmecken, erleben, und sei es vom sicheren Aussichtspunkt aus zusammen mit zig hunderten Schaulustigen. Während Wald, Moor, Berge, Seen meine vertraute Heimat sind, die ich täglich bewußt in mein Leben lasse und hole auf Spaziergängen, Streifzügen, Ausflügen, bleibt der Ozean mir ein Hort der Sehnsucht, der unerreichbaren Träume, Symbol der Ungebundenheit. Wald, Moor, Berge, Seen sind meine wundervolle Familie – das Meer jedoch der endlose, launische, exzentrische Geliebte, nach dem man sich verzehren wird, solange man atmet.

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