77, Teil I: Eine Akademikerin auf der Death Road

77, Teil I: Eine Akademikerin auf der Death Road

Südamerika, Mai bis Juli 2009.

Es gab einen Kleinbus als Schlußlicht, zwei Führer als Begleitung. Meine düsteren Ahnungen hatten sich bestätigt, als ich all der Schutzkleidung gewahr wurde, die wir würden tragen müssen: Hose, Jacke, Helm, Handschuhe. Nichts paßte so richtig, die Sachen waren angeschmutzt und zerschlissen. Insbesondere die Handschuhe bereiteten Mühe: riesig und schwer und so steif, daß man kaum seine Finger herunterbiegen konnte. Genau darin jedoch bestand unsere Aufgabe der nächsten drei Stunden: auf dem Fahrrad die sogenannte Death Road in Bolivien herunterjuckeln. Bremsen, toujours Bremsen (zumindest in meinem Fall, da Feigling). Die Straße war von Schotter bedeckt und staubig, Steinklumpen groß wie Fäuste lagen verstreut. Die Landschaft erwies sich als unglaublich malerisch, man fuhr hinab, schlängelte sich nach unten, es wurde wärmer und wärmer, neben sich der Abgrund, senkrecht abfallend, überwuchert von Grün, Sträuchern, Bäumen, Dingen, die ich nicht kannte. Nur Rhizinus wußte ich aus der fremden Vegetation zu benennen. Ständig umflatterten mich bezaubernde Schmetterlinge, herrliche luftzarte Gebilde in verschwenderischen Farben. Meist jedoch hatte ich kein Auge dafür. Für das Tal nicht, für die Pflanzen und Tiere nicht, nur am Rande nahm ich die dunklen Schwingen der Adler war. Ich konzentrierte mich einzig auf das – Bremsen. Meine Finger schmerzten bereits in den Gelenken, unter dem Handschuh spürte ich die Blasen und entstehenden Schwielen. Die Fahrräder waren alt, schlecht gewartet und häufig benutzt, die Bremswirkung schien gleich Null, meine Wirbelsäule (und den darauf erstaunlicherweise noch immer sitzenden Kopf) erkannte ich als Wunderwerk der Natur, wurde sie doch durchgerüttelt und erschüttert, ohne daß sie ernsthaft Schaden nahm. Meine Stimmung war gesunken und gesunken, mit jeder neuen Schlaufe, die ich nahm, mit jedem Temperaturgrad, das höher wurde. Zunächst einmal: Ich hasse Mountainbiken! Gelegentlich gemütliche Fahrradtouren in idyllischer Landschaft, ja! Aber das hier? Permanent Bremsen? Kein Treten? Ständig darauf achten, nicht zu stürzen (wie es einer Teilnehmerin aus einer anderen Gruppe gleich zu Beginn auf brutale Weise passiert war)? Kein rechter Blick für die Berge und Vegetation? Ständiger Staub oder gelegentlich Matsch, wenn man einen kleinen Wasserfall überquerte? Und dann gab es noch diesen nervigen Angestellten der Reiseagentur, der motorisiert vorausfuhr, stehenblieb und mit seinem Drecksdigitalapparat Fotos schoß und einen zum Lächeln, Strahlen, zu Siegerposen aufforderte! Meine Wut steigerte sich mal zu Aggression, verfiel dann wieder in verzweifelten Trotz. Mochten die anderen Spaß daran haben, warum zwang Timo mich zu etwas, das einfach meinem Wesen nicht entsprach (Damals, frisch von der Universität abgegangen, war ich noch mehr „Akademikerin“ gewesen als Sportlerin)? Sie waren schon seit zwei Stunden außer Sichtweite, geübter im Fahren, mutiger, sie strampelten sogar, wo ich nur zu bremsen wagte. Ständig wurde ich überholt von den Begeisterten nachfolgender Gruppen, gelbe Trikots, rote, blaue (wir hatten grüne an), welche mir zusätzlich demonstrierten, daß ich in meinem Empfinden wohl verkehrt läge, daß es einem Vergnügen bereiten müsse, wenn man normal war.

„Ich bin aber nicht normal!“ grollte es mir durch den Kopf, der seit Stunden gegen den Helm donnerte (welcher letzterer natürlich auch nicht korrekt angepaßt war), und erneut kochte die Verärgerung hoch in mir.

„Zum Teufel damit!“ dachte ich, absteigend, und winkte dem Bus zu (der wie eingangs erwähnt stets das Schlußlicht zu bilden hatte), ließ mein Rad, dieses Foltergerät, auf dem Gepäckdach vertauen und mich selbst auf einen der unbequemen Sitze im hinteren Teil des Wageninneren plumpsen. Schon ging es weiter, das Gefährt polterte gemächlich die Straße hinab, die mit Staub und Schlieren bedeckten Fenster wackelten vor meinen Augen auf und nieder. Ein Beobachter wäre erstaunt gewesen. Ich lächelte. Ich brauchte nicht mehr zu bremsen. Ich konnte mich in die Landschaft vertiefen. Sogar vom Bus aus hatte ich bessere Gelegenheit, die Schmetterlinge zu betrachten, als es mir vom Drahtesel her möglich gewesen war. Die letzte Stunde verbrachte ich in aller Ruhe mit Kucken.

„Wie, es hat dir keinen Spaß gemacht?“ Timos Ungläubigkeit war echt und ehrlich, seine Freude strahlte er mit jeder einzelnen seiner Poren aus.

„Oh, die Busfahrt schon!“ erwiderte ich ebenso aufrichtig.

Timo antwortete mit einem verächtlichen Blick. Es war unser erster und letzter gemeinsamer Ausflug in Südamerika gewesen.

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