44 Ein Geschenk

44 Ein Geschenk

Grönland, September 2017.

„Is this a walking tour, or is it a JOGGING tour?“

Ich blickte in Charlies strahlend blaue Augen, die er gerade weit aufgerissen hatte, zugleich lachend. Er war vollbepackt mit Equipment, sein Cappi auf dem üppigen blonden Schopf verrutscht und etwas zu tief in der Stirn sitzend. Er rannte an mir vorüber, die ich nun das Schlußlicht der Gruppe war; ich konnte sie in einer langen, auseinandergezogenen Reihe weit, weit vor uns gehen sehen. Charlie hielt wieder inne, um zu fotografieren. Ich überholte ihn gemächlich. Charlie war eigentlich unser Guide während dieses Foto-Workshops und sollte somit die Spitze einnehmen, doch verzauberte ihn die bunte nordische Hafenstadt, die unter uns ausgebreitet lag, zu sehr. Wie so viele der Guides, die ich bisher kennenlernen durfte, war auch er eine besonders charismatische Persönlichkeit, spitzbübisch, fröhlich, schlagfertig, dennoch gewissenhaft. Ursprünglich aus Schweden stammend, hatte er jahrelang in Florida auf einer Marina gearbeitet, für sechs Monate mit Fischern auf einem Boot vor der Küste Madagaskars gelebt, sich in Indien selbst einen Silberring, filigran verziert und einen großen Türkisstein fassend, geschmiedet. Diesen Ring trug er am Mittelfinger. Charlie hatte wundervoll geformte Hände, zart und doch maskulin, der Ring stand ihm ausgezeichnet, sodaß ich ihn darum bat, sich mir als Handmodel zur Verfügung zu stellen für ein Foto, worin er – unkompliziert und Sonnenschein, der er war – sofort einwilligte, aber ich vertröstete ihn auf später; mir schwebte ein bestimmter Hintergrund vor für mein Körperstilleben.

Draußen auf dem Meer schwammen die Eisberge. Weiß und Blau, in allen Schattierungen, Texturen, Formationen, vermischt mit Vanille und Grau; das Wasser lag ruhig und spiegelte einen Wattewolken betupften Himmel. Der Wind biß schneidend-kalt ins Gesicht. An die Felsen ringsum krallte sich tundrische Vegetation, herbstlich gelbe Zwergweiden, nur ein paar Zentimeter hoch, und leuchtend rote Miniaturlaubblätter der winzigen Birken, kriechende Gewächse hier und keine Bäume. Während die anderen mit dicken Backen an ihrem Proviant kauten, fragte ich Charlie, ob er vielleicht etwas Zeit erübrigen könne für unser „Foto-Shooting“.

Ich platzierte seine bilderbuchmäßig ausgebildete Hand mit dem türkisenen Ring auf einem Bett aus Zwergweide und -birke, ein formidabler Dreiklang aus Neongelb, Kirschrot und Hellblau, eine Komposition aus Steingrund, lebendigen Pflanzen und einer menschlichen, hübsch geschmückten Hand. Wir probierten verschiedene Gesten, Fingerhaltungen, Aufnahmewinkel aus, eine Viertelstunde lang. Da ich ohne Stativ arbeitete und meinen Freiwilligen nicht über die Gebühr strapazieren bzw. die sehr schlanke Person nicht vom Mittagsmahl abhalten wollte, erreichten die Bilder nicht die gewünschte Qualität, aber Charlies ganze Energie, sein Wesen, floß ein in diese Fotos: damit hat er mir ein großes Geschenk gemacht, das mir in der Erinnerung immer wieder Freude bereitet.

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