32, Teil III: Poesie

32, Teil III: Poesie

Kenia, Februar 2018.

Die Zunge war bläulich, fest, sehr rau und leicht klebrig, nicht besonders warm, am meisten erstaunte mich das Gefühl von Sandpapier, obwohl es nur eine logische Konsequenz der Ernährungsweise ist, anatomisch eine solche Raspel zum Reißen der Laubblätter entwickelt zu haben. Ich wollte die Giraffe länger bei mir verweilen lassen, als die paar Sekunden, die sie sich hinabbeugte, um die gepreßten Leckerli-Pellets aus der Hand zu fressen. Auf dem Weg von Nairobi zur Lodge am Solio-Park  hatten wir am Zuchtzentrum gehalten, einem kleinen Vortrag gelauscht und uns nun den anderen Touristen angeschlossen, die die schlanken hohen Tiere mit Verve über eine Mauer hinweg fütterten: Inder, Afrikaner, Europäer; Familien mit aufgeregten oder eingeschüchterten Kindern, junge Backpacker, ältere Damen in bunter Tracht, denen die Begeisterung Zwanzigjähriger aus dem Gesicht leuchtete. Jedenfalls trickste ich eine der juvenilen Giraffen aus, indem ich ihr mit Rechts das Trockenfutter anbot, ohne es aus den Fingern zu geben, während ich mit der linken Hand behutsam die weiche, samtene Wange streichelte, um sie dann sanft auf Nase und Kinn zu stupsen, nachdem ich das Pellet herausgerückt hatte. Es ging alles ziemlich schnell, doch spürte ich, wie sie Gefallen fand an dieser Herangehensweise, meine Nähe suchtet, die Berührung genoß und länger bei mir verweilte. Ich muß gestehen, es befiel mich ein wenig Genugtuung darüber, daß andere meine Taktik zu kopieren versuchten, es ihnen jedoch nicht gelang, die Beziehung aufzubauen zum Tier, sodaß es kein Streicheln wurde, sondern ein bloßes geschwindes Anfassen. Giraffenaugen sind groß und rund, glänzend, von herrlichen Wimpern bekränzt. Man sah den Kopf auf sich zubeugen von ganz weit oben, fühlte die kauenden Backen, die sabbernde, kratzige Zunge, die nach den Leckerli tastete, ließ im richtigen Moment los, durfte das Tier nicht zwingen, schon gar nicht fürchten, man freute sich, respektierte es, verabschiedete sich, wenn es schmatzend wieder den Hals aufrollte und die schwarzen Kulleraugen in die Höhe verschwanden.

Ich frage mich, wohin die Poesie verschwunden ist, ein reiches, vielfarbiges Fluid, ein graziles Gewebe aus Pastell. Die Sätze kommen, man muß sie sich nicht ausdenken; ob sie Sinn ergeben?

Das Ginsterkatzenaquarell war Poesie, das Schwimmen im kalten Infinitypool mit Savannenblick, das musische Klicken der Spiegelreflex, zu stehen unter zirpendem Sternenzelt, Yoga auf einer Seeinsel bei vierzig Grad, und so vieles mehr.

Der Frühling jetzt nach der Schneeschmelze, Teppiche aus Märzenbechern und Christrosen im Wald. Die gelben Papageientulpen auf dem Schreibtisch.

Poesie, alles.

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