257 Revue-Abend

257 Revue-Abend

München, Juli 2023.

Sie schwebte in den mit geschwärzten Hölzern ausgekleideten Saal wie ein Feenwesen, nicht von dieser Welt; obwohl groß gewachsen, wirkte sie zierlich, fast ätherisch mit ihrer milchweißen Schneewittchenhaut und dem hauchrotblonden Haar. Ihr bodenlanges, enges, rückenfreies Kleid war gold-aprikotfarben und über und über mit Stab- und Rundperlen, mit Pailletten besetzt, ungewöhnlich elegant für ein Mädchen dieses Alters. Sie gestikulierte kaum merklich, anmutig, ließ sich den Platz weisen in die vorderen Reihen. „Kuck mal!“ tuschelte und raunte es ringsumher. „Da ist die Tochter von…!“  Auch ich hatte sie erkannt, aber ich gestand ihr einen eigenen Namen zu. Die Dame neben ihr wurde nicht als deren Mama tituliert, sie war (und würde es auf vermutlich immer bleiben) seit dreiundzwanzig Jahren die „Affäre von“. Das Blitzlichtgewitter, den Medienrummel um sie, um den Designer des Abends und etliche Influencer und Sternchen hatte ich verpaßt  (abgesehen von einigen erhaschten Blicken auf das Model Papis Loveday und die Volksschauspielerin Ilse Neubauer), denn mir war nicht bewußt gewesen, daß es sich bei der geschenkten Karte um eine Premierenveranstaltung handelte, bei der ein roter Teppich ausgerollt würde und Riesenkameras aufgepfropft – Lang Lang oder Anne-Sophie Mutter unlängst hatte man nicht auf diese Weise empfangen…

Tänzer, Sänger, Circusartisten, ein Ensemble, das zuvor (2019) im Pariser „Follies Bergère“ gastierte – wo einst schon Josephine Baker aufgetreten war, um einiges politischer im übrigen – realisierten die von Gaultier entworfene Show (viel Revue, ein wenig eigene Biographie und ein ausgedehnter Exkurs in die 80er Jahre mit Zitaten an David Bowie aka Ziggy Stardust, George Michael, Prince, Madonna), bei der laut Zeitungsartikel 400 Kostüme zum Einsatz gekommen waren. Mich beeindruckten die selbstbeherrschten, perfektionierten Tanzkünste voller Ballettelemente (freilich auf Popkultur getrimmt), die humorvollen Seitenhiebe auf Anna Wintour als Fashion Police, die mit einem originellerweise dunkelhäutigen Karl Lagerfeld per Videocall telefonierte, berührte die kraftvolle Stimme der Hauptsängerin (wie? Das gibt es noch? Nichts computerverzerrt??), bestaunte die unterschiedlichen Körperformen, von Sixpack-mager bis ausgesprochen propper reichend. Nur ganz ehrlich: all dieser Burlesque-/Striptease-/SM- Kram, der hat mich maßlos…  gelangweilt. Grell buntes Federblingbling à la Christopher Street Day, Lederkorsagen und Bondage-Oufits, nachgestellte Sexorgien (die waren doch eigentlich schon seit Christina Aguilieras Dirrty (sic!) so etwas von oldschool…), wen reizt das noch? Im Prinzip hat Jean Paul Gautier mit seiner „Fashion Freak Show“ nichts anderes getan, als seinen eigenen Anachronismus im Rampenlicht zu feiern; ich gönne es ihm, seine Fernwirkung ist äußerst charismatisch und sein Lebenswerk eben eine Spielart im vielfältigen Mode-Kultur-Diskurs. Irritierend war mir, daß später kein mir bekannter Zeitungsartikel, kein Fernsehbericht mit auch nur einem Sterbenswörtchen auf die übersexualisierte Konnotation eingegangen ist, ganz so, als hätte die Veranstaltung etwa Schwanensee  oder dem  Nußknacker geglichen…

Die Darsteller Gaultiers und dessen großer Liebe tanzten in einem einzigen, übergroßen der berühmten blau-weißen Ringelshirts, wobei der rechte Ärmel von der Gaultier-Figur ausgefüllt wurde und der linke von dessen Partner, ein fast kindliches Symbol der Einheit. Nach dem frühen Tod des Lebensgefährten trug der Gaultier-Charakter den Riesenpullover dann alleine, ein Kleidungsstück, absolut obsolet geworden, ja unbrauchbar; eine innige Bildidee zum persönlichen Ausdruck von Verlassenheit, Trauer und Leere, wohl der tiefste Moment des gesamten Bühnenwerkes, der nur eines der unzähligen Tänzer bedurfte.

Das Publikum toste; es johlte, applaudierte, feierte, ein Überschwang, der auf Interviewnachfragen hin als beinahe ungewöhnlich, ja außerordentlich, benannt werden würde von zwei Mitwirkenden backstage. Ich indes unterhielt mich gut, ohne ein Seelenbeben zu verspüren. Und doch, angesichts des Spektakels, der Lichttechnik, der eingeblendeten Videosequenzen und bunten Grafiken, der aufwendigen Kostüme und vielen Zitate, all der sich verausgabenden Leute, die offensichtlich ihr Bestes taten, uns bei Laune zu halten, da überfiel mich ein gewisses Unbehagen: denn wieder wurde mir bewußt, die Welt da draußen ist um so ungeheuer größer und vielschichtiger, facettenreicher, als dieses kleine selbstgefällige Kaff es mir zugestehen möchte…, zugestehen kann.

Kurz vor Mitternacht, der Vorhang ist längst gefallen, die Gläser geleert, das Auto daheim eingeparkt, fühle ich mich nach einem Event wie diesem immer ein wenig wie Mary, Travestiekünstler meiner Kindheit, die oder der sich stets vor Publikum am Ende seiner Show abschminkte, ein Lied singend, melancholisch-traurig. Die Perücke gleitet langsam herab, die Wimpern werden entfernt, zum Vorschein kommt Georg Preuße, der sich aus seiner Kunstfigur heraushäutet… Ja, ich denke oft an Mary, während ich das Perlkettchen herunternehme, die dutzenden Nadeln aus dem aufgesteckten Haar ziehe, das sorgsam ausgeführte Make Up mit Seifenwasser den Abfluß hinabspüle, die Seide oder das Leinen oder was eben an diesem Abend gewählt worden war, zurück auf den Bügel hänge hinein in den Kleiderschrank. Jedes klassische Konzert, Theaterstück, jede Tanzvorstellung oder Lesung ist auch stets bis zu gewissem Grade meine eigene Vorstellung. Hallo, das ist die Frau, die ich gerne sein würde – immer sein würde, nicht lediglich für fünf, sechs, sieben zu kurze, allzu flüchtige Stunden.

 

 

 

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