242 Hyperreal

242 Hyperreal

München, April 2023.

Süchtig nach Schönheit – wieso fehlt es dem Deutschen an Vokabular, ist die holprige Wiederholung unausweichlich? Wir haben nur ein  einziges Wort für Wasser, für grün, Sinnlichkeit, Kälte, Freude; es scheint den meisten auszureichen. Ich hingegen stoße mich am Mangel. Bitte verzeiht, wenn ich euch langweile, enerviere, aber seid versichert: mir ist es – worüber ich schreiben möchte – jedes Mal neu, neu wie Venus, die Schaum geborene. Jungfräulich neu.

Der Mehrheit ist es zu viel. Du sagtest, dir sei es das nicht, zu viel. Ich glaube dir: vorerst, unter Vorbehalt, denn eine Vergangenheit als Summe von Beleidigungen und Erniedrigungen, Ablehnung und Unverständnis macht mißtrauisch. Wollen tue ich es aber, dir glauben, ein Stück weit vertrauen, daß es das noch gibt; ich dachte, mein Blick in die Zukunft reduziere sich auf eine kleine symbolische Tätowierung, Glaube, Liebe, Hoffnung.

Heute spätnachmittags war ich in Nepal, in Irland, Schottland, dem Hund durchs Moor folgend, das vom nebligen, feuchten Grau halb verschluckt wurde. Kiefern tuschten sich gedrechselt auf, Birken, an denen die Schwämme pappten, wischten hinein ins Aquarell, akzentuiert vom sperrigen Heidelbeer- und vom alten, keuchenden Erikagestrüpp. Aus den hunderten Millionen Jahren herüber grüßte der Bärlapp, chlorophyllsprühende Miniaturtannen. Wir, Montana und ich, wechselten auf ein anderes Stück, das dominiert wurde von platten, fahlen, strohenen Gräsern, die in Bündeln den Boden bedeckten wie ein vergessener Wischmopp. Im flankierenden, bronzebraunen Graben spiegelten sich Wolken, die alsbald Graupel ausschüttelten, dem tanzende, huschende Schneeflocken nachkamen. Ich legte den Kopf in den Nacken, meine Wangen spürend, kalt und heiß zugleich, gekost von einer Witterung, die andere als scheußlich beschimpfen (Leute, die ihre vier Wände zu wenig verlassen und nur selten Leben atmen). An einem Feldweg nachher, eine in Bogen verlaufende dicht bewachsene Allee, ein Götterbild: Sonne brach durch – von woher so plötzlich?, es war mir ein Rätsel; von dieser Sonne bestrahlt – Flutlichtern eines Sportstadions gleich – prangten im Wechsel etliche niedrigere, gelb blühende Weiden und eine höhere Laubbaumart, deren Jungzweige ein helles Orange trugen, wie gefiederte Neonröhren muteten sie an, und dahinter grollte bedrohlich ein stahlblaugrauer Gewitterhimmel auf (der sich nicht abregnete), eine kontrastreiche, fast bizarre Szene schaffend, ungeheuerlich schön.

Mehr Nuancen, Schattierungen, intensivere Farben, Düfte, die Details, die normal nicht auffallen und uns wesentlich sind? Manchmal splittert alles auf und es sinkt in mich hinein, die orangenen Frühlingsäste vor dem Gewitterschwarz, löst sich heraus und brennt sich mir ein, daß ich es nie wieder vergesse, es wird dann realer als die Realität, hyperreal. Diese Sinnlichkeit, sinnlich im nicht sexuellen Sinne und doch beinahe erotisch – ist das jetzt eine typisch weibliche Sicht? Eine Sinnlichkeit, die man berühren möchte, die man auf den Lippen spürt, unter den Fingerspitzen, das kann ein Stück Literatur sein, die zitronene Narzissenwiese im Garten, der vorbeifliegende Schwan, eine Lage Stoff (Leinen oder Seide oder Samt), eine Skulptur, eine Fotografie.

Ich habe etwas von den Mails gestohlen. Geborgt. Teile versetzt. Dinge, die jemandem gegolten hatten und nun öffentlich werden; deshalb sind sie nicht weniger deins. Danke dir. Gut, daß du nicht die Zeit hast, hier zu lesen, dann kann ich mich weiterhin austoben bis zum Kitsch. Auf dem Spaziergang durch Nepal, Irland, Schottland, mein kleines, winzigkleines Moor, da waren die Empfindungen von Hyperrealität, Naturschönheit, Richtigsein, waren Montana und ich – und du.

 

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