193 Minitrip nach China

193 Minitrip nach China

München, Oktober 2021.

Kurzentschlossen war ich Ende August nach China gereist, in die Stadt Longquan im Südwesten der Provinz Zhejiang, eine bewaldete Gebirgsgegend mit angesiedeltem, regen, lebendigen Handwerksschaffen. Der Kontrollbeamte bewegte sich in der Manier eines Faultieres, in Zeitlupentempo nahm er meinen Ausweis entgegen, begutachtete ihn, drehte ihn, begann damit, die Daten in seinen Computer zu übertragen, Ein-Finger-System, abgehackt, zehnsekündige Pausen zwischen den einzelnen Buchstaben, vertippt!, wo war noch einmal Storno? “Adresse!” pampte er, ohne mich anzuschauen, was ich wiederum nutzte, ihn ausgiebig zu mustern, sein knittriges, graues, müde-gelangweiltes Gesicht. Ich ließ mich auf das Spiel ein. “Die steht doch auf dem Dokument drauf!” “Wo?” schnappte er zurück. “Kann ich Ihnen auf Anhieb nicht sagen, dafür bräuchte ich den Ausweis noch einmal wieder.” Hinter seiner Stirn ratterte es, was führte ich betrügerisches im Schilde? Argwöhnisch händigte er mir die Plastikkarte, die meine Identität ausmacht, über den Schalterthresen hinweg aus. Unübersehbar gedruckt stand dort meine Anschrift, ich klopfte leicht auf die Stelle. Er griff nach dem Ausweis, setzte erneut zum Ein-Finger-System an, die Schlange hinter mir wurde lang und länger, Füße scharrten, ein Räuspern hier, ein ungeduldiges Seufzen da, unterdrücktes Hüsteln. Nach einer Ewigkeit endlich genehmigte man mir den Zutritt ins Museum, überreichte er mir mürrisch das Ausstellungsticket sowie meinen Personalausweis; mit allergrößter Genugtuung und einem fetten innerlichen Grinsen registrierte ich, daß dem geflissentlichen Staatsdiener entgangen war, daß dieser mein Ausweis elf Monate zuvor abgelaufen war. (Das Virus, dem dieser Aufwand galt, wird sich mächtig beeindruckt gezeigt haben von diesem Deutschtum; ich stellte mir einfach vor, mich einer Einreisekontrolle nach China unterzogen zu haben – dafür ging das Procedere dann wohl doch erstaunlich schnell und unaufwendig vonstatten.)

Ich hatte einmal einen Kommilitonen – derjenige, der Raumfahrtingenieur wurde und nicht mein Freund – gefragt, ob man Dinge lieben könne. Er antwortete, klar gebe es Objektophilie, Leute, die sich z.B. in ihr Fahrrad verliebten und es wie einen Partner behandelten. Äh. Nicht ganz das gemeinte… Eigentlich hatte ich wissen wollen: kennst du dieses unglaubliche Entzücken über einen handwerklich perfekt geformten Gegenstand voller Materialqualiät, Kunstfertigkeit, Ästhetik? Etwas, das so ungeheuer schön ist, daß es einem ins Herz sinkt; etwas, das dich mit anderen Menschen verbindet über Dekaden, über Jahrhunderte hinweg. Das dich vor Ehrfurcht staunen macht, dich demütig werden läßt und zugleich freudig beglückt. Das Wunder, aus Nichts Etwas zu gestalten, eine Hirnwelle Realität werden zu lassen, aus völlig widersinnigen Zutaten und Stoffen etwas zu kreieren, das eine gewisse Beständigkeit aufweist. Die Fähigkeit, der Welt Schönheit zu verleihen. Sinn zu stiften. Wenn irgendetwas Sinn bereitet auf Erden, dann wohl Schönheit um ihrer selbst willen. Andere sagen, ich sei verwöhnt, luxussüchtig, materialistisch, objektophil.

Chinesische Seladonporzellane der Gegenwart stellen eine Kunstform dar, die sich laut Experten aktuell in ihrer absoluten Blüte befindet, in ihrer Hochphase, was ja recht ungewöhnlich ist, meist – fast immer doch – handelt es sich um ausgestorbene oder niedergehende Produktionszweige wie die legendären Goldgranulationen der Etrusker, die türkischen Lüster-Fayencen aus Iznik, die Meisterschaft barocker Ebenisten mit ihren Schildpatteinlagen und so weiter und so fort. Aber zeitgenössisches Kunsthandwerk in breiter, umfassender Perfektion (also nicht nur von einzelnen Ausnahmen zustande gebracht, sondern von einer ganzen Gilde/Zunft/Sparte), extrem selten! Extrem reizvoll.

Fast jedem Exponat war eine eigene Vitrine beschieden; im höhlenartig abgedunkelten Raum setzten etliche Spots goldene Lichtakzente, schufen eine Atmosphäre der Intimität, des Geborgenen, des Edlen. Die Glasuren wiesen einen Glanz auf, so unbeschreiblich delikat, beinahe mochte man sagen: appetitlich. Dieser Glanz schwamm förmlich auf den Körpern, die das charakteristische beruhigede, pudrig-pastellige Grün trugen: apartes, sanfte Jadegrün, aqua-minten; Regenwald-, Bambus-, Schilf-, Türkis-, Gletscher-, Nephrit-Grün. Blaugrün, Grünblau, Graublau, Grüngrau; glatt oder mit Kraquelée, kleinteilig, großzellig, grobe “Risse” , Liniengitter, Punktschuppen. Aufmodelierte Tiere: Affen, Elefanten, Drachen; eingeritzte, abstrahierte Fledermäuse, Chrysanthemen, Wolken. Gemalte Fische, aufgesetzte, vergoldete “Korallen”. Imposante und winzige Gefäße, bauchig, eckig, oktogonal, Schalen, Vasen, Deckeldosen, so viele Facetten des gleichen Themas! Welche Präzision in der Ausführung, welche Könnerschaft! Meine Augen streichelten die lockenden Oberflächen, weil die Fingerkuppen es nicht durften, wurden Zeuge zeitgenössischer Attraktion.

Irgendetwas gescheites müsse aus China ja auch kommen, ließ man mir gegenüber regelmäßig verlautbaren, sodaß ich meine Entdeckung allmählich für mich behielt, freilich ein klitzekleinwenig seiner Freude daran beraubt. Stattdessen tapse ich nun öfter ins – verwaiste, unnütz gewordene – Gästezimmer, wo auf einer Spiegelkommode eine urnenförmige Vase steht mittlerweile, das schwere Stück anhebend, die unterschiedlich gestalteten Seiten musternd, saftige Granatäpfel, üppige Quitten, niedliche Litschifrüchte, aufmodelliert im erhabenen Flachrelief und komplett einheitlich-ebenmäßig glasiert in gedecktem, perlgrauen Salbei. Keine Beute eines Museumsraubes unlängst, kein Souvenir einer Chinareise, sondern schlicht eine ebay-Trouvaille, “Plunder” irgendeiner dahingeschiedenen, wildfremden Oma.

Seladon – der Inbegriff von zurückhaltender Sinnlichkeit, von bescheidener Eleganz. Ein Gegenstand nur. Er spricht mehr zu mir, und dies vor allem tiefer, als die meisten Menschen.

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