192 Spannungen

192 Spannungen

Slowakei, August 2012.

Sie hatte mich von der ersten Sekunde an, in der sie mich sah, nicht ausstehen können und mit ihrer Ablehnung die Gruppe angesteckt. Vielleicht stachelte es sie noch mehr an, daß sie mich kaum zu beeindrucken vermochte damit.

“Du darfst nicht mitspielen!” bekam ich im Kindergarten zu hören, zu meiner Verwunderung damals, später zu Schulzeiten war ich die langweilige Streberin, bei der man die Hausaufgaben abschreiben konnte, während der Prüfungen spicken und zur allgemeinen Unterhaltung schikanieren und mit Worten quälen. Fettengel, stand auf einem der Zettel, die ich bekam. Es amüsiert mich, daß die meisten der Mitschülerinnen dem allgemeinen Trend gefolgt sein dürften und mit den Jahren auseinandergegangen sein wie ein Hefeteig. In der Uni dann lernte ich die Gleichgültigkeit kennen, es war egal, ob man existierte oder nicht, es machte niemandem einen Unterschied. Wie gesagt, man gewöhnt sich an so manches. Inzwischen nervt es nur noch, und das einzige, was ich möchte: mich unterwegs den Eindrücken hingeben, ohne von irgendwelchen unguten, negativen Energien abgelenkt zu werden, die im übrigen das Problem der sie ausstrahlenden Person sind und nicht das meine.

Wir waren früh aufgebrochen hinein in die Bergwelt der Hohen Tatra, die Grenzregion zu Polen hin. Bezaubernde Bäche gurgelten über saftige Wiesen hinweg, azurblau, verführerisch leuchtend bestanden mit Eisenhut, der mit dieser einmalig intensiven Farbe alles überzog, ein trügerisches Idyll (weil er, wie an anderer Stelle erwähnt, die giftigste Pflanze Europas ist). Ich erinnere mich, wie wir die Stunden vertrödelten, die schroff aufsteigenden, von Flechten gelben Flanken als Rahmen für glitzernde Wasser und müßig verwehende Schmetterlinge. Ein Biß ins Butterbrot hier, ein Foto dort, Zigarettenpausen, nackte, planschende Füße in türkisenen Naturbecken. Die Sonne hatte sich irgendwann zurückgezogen hinter einen milchig weißen Vorhang, den ich für Nebel hielt anfänglich, bis mir dämmerte: es waren Wolken. Sich transformierende Wolken, heiter schafhell zu französisch gris hin zu schneematschgrau und schließlich düster-blechern. Ich wurde unruhig, ein Kribbeln ergriff mich, keines der Verliebtheit im Bauch, sondern ein Wabern die Arme hinweg, das mir durchaus vertraut ist. Wir hielten nun weniger oft inne, sondern ein konstantes Tempo ein, stiegen höher und höher, die Gipfel wichen allmählich zurück. Die Wiesen schwanden, der Pfad verschmälerte sich. Längst regnete es, und noch immer quollen die Wolken auf, näher heran zu uns, grollend, grummelnd. Wunderschön geformte Latschenkiefern strichen uns über die Waden, knorrige Zwerggewächse von herrlichem Duft, sie reichten uns bis zu den Knien. Es handelte sich zwar nicht um einen schwindelerregenden Grad, doch waren wir seit bestimmt einer halben Stunde der höchste Punkt weit und breit. Ich dachte an die metallene Sigg-Flasche in meinem Rucksack, an meinen dezenten, aber ebenfalls metallenen Schmuck. Mich fürchtete das Gewitter, in welches wir geraten waren, und noch immer setzten wir den Weg fort unserem Ziel entgegen: ein riesiges Tal, das wir erst zu erklimmen hatten, ehe wir seine Tiefen erkunden konnten. Ich äußerte Bedenken, wurde schweigend übergangen. Blitze zuckten vorüber – was war zuerst, der Blitz, der Donner, welchen Blitz sollte man welchem Donner zuordnen? Sie wechselten einander ab in unregelmäßiger aber rascher Reihenfolge. Ich erhob meine Stimme, wörtlich, wurde laut. Man brachte mir Verachtung entgegen, ich Feigling, ich solle mich nicht so haben. Der Guide befragte die Gruppe als ganzes: Weitergehen, Aufsteigen zum Beginn der Talsohle, oder Abbrechen und Umkehren zu den Flanken hinter uns? Wie so oft in Gruppen: die Mehrheit hielt sich heraus, es gab mich und die Frau, die mich haßte. Ich war der Auffassung, wir befänden uns in Gefahr, sie tat es als Lappalie ab. Der arme Guide war völlig ratlos, in offensichtlichem Zwiespalt gefangen. Hatte er als Bergführer und Bewohner der Hohen Tatra keine Meinung? Streit im Regen, noch immer ging es wie im Tourplan vorgesehen weiter, scharrten die Latschen mir die Beine entlang.

Da donnerte es – Wolkenmassen, die aufeinanderkrachten – und zog sich ein schaurig-faszinierendes Band horizontal gezackt grellgelbgrünweiß den Himmel entlang, um mit einem imposanten Schlag abzuknicken und in die Erde zu fahren ein paar Meter tiefer neben unseren Pfad. Die ganze Luft war voll von der Elektrizität, ich spürte sie auf dem Körper liegen, als habe ich ein Bad im Meer genommen, quasi als Salzfilm, der mich überzog, schmeckte sie im Mund. Mein Herz hämmerte vor Schreck. “Wir kehren um.” sagte der Guide, die Gruppe folgte ihm. Wir wandten uns von dem verheißungsvoll schönen, üppig weit lockenden Tal ab hin zu den drögen Bergwänden, die wir schon kannten. Die nächste halbe Stunde sprach niemand, die nächste halbe Stunde klang das Gewitter allmählich ab. Es verblieb ein harmloser Regen, der uns von den tristen Fichten auf die Köpfe tropfte. Keine Frage, der hübschere, interessantere Teil des Weges hätte noch vor uns gelegen. Ich hörte es zischen und ätzen. Wegen mir Angsthasen mußte die ganze Gruppe darauf verzichten; ich Feigling hatte dafür gesorgt, daß uns dieses herrliche Tal verwehrt blieb und anstatt sieben bloß vier Stunden gewandert worden sei.

Ich besitze, nicht unbedingt zu meiner Freude, die Fähigkeit, elektrische Spannung bzw. Ladung auf der Haut zu spüren, und ich kann versichern: niemals wieder habe ich sie derart intensiv und mächtig und alles verschlingend empfunden wie an jenem Tag im Gebirge der Hohen Tatra. Die Frau habe ich freilich nie wieder getroffen, aber ich bin mir sicher, in ihrer Version der Reiseerlebnisse ereifert sie sich noch immer über das törichte Gör, das ihr vielleicht – vielleicht, vielleicht auch nicht – das Leben gerettet hat.

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