163, Teil I: American Sunday

163, Teil I: American Sunday

München, März 2021.

Ein Mädchen auf dem Meeresgrund  hatte mich viele lange Jahre beschäftigt, anekdotische Memoiren einer mondänen, willensstarken Frau, die an der Seite des berühmten Unterwasserforschers Hans Hass Tauch- und Filmgeschichte geschrieben hat.

And no matter who You are I´m glad You´re here, Zwischenmoderation auf dem Radiosender ego.FM, die schmelzende Stimme Jordan Princes, der durch den American Sunday, Thema Identity Crisis führt. Hundefutter köchelt, Butterkekse dampfen duftend aus dem Ofen; Schneeregen und hunderte, grünende Tulpenspitzen vor dem Fenster. Warum sind es anonyme, völlig unbekannte Menschen, die mir die nettesten Dinge in meinem Leben sagen? Wollen wir das nicht alle hören? Daß man froh ist über unsere Anwesenheit, ohne dies an irgendeine Bedingung zu knüpfen? Ja, man merkt, ich habe einmal mehr einen Korb erhalten. Bin ich zu verrückt? Zu hart? Nicht ausreichend ansprechend? Ewig war mir Lotte Hass nicht mehr in den Sinn gekommen, nun dachte ich unerfindlicherweise plötzlich an ihre Schilderung einer Begegnung mit einheimischen Frauen Sharm el-Sheikhs, die – mangelnder Ägyptischkenntnisse der Reiseabenteurerin wegen – in der Sprache des Femininen stattfand: Kommunikation mittels eines entzückend roten Lippenstiftes, der die Runde machte und Farbe auf die Münder und das Gefühl von Schönheit in das Selbstbewußtsein der Dörflerinnen brachte. Vom Hundefutter über eine Flirtabfuhr zu ego.FM und Lotte Hass sowie Sharm el-Sheikh: so geht es immer in meinem Kopf zu, jedes abgespeicherte Erlebnis, jeder gebunkerte Erinnerungsfetzen dort ist assoziativ miteinander verwoben.

 

Ägypten, Juli 2010.

Wie war ich knapp ein Jahr nach dem Tod meiner Schwester ins pauschaltouristische All-inclusive-Hotel am Roten Meer gelangt? Die Antwort wiederum ist in der Vergangenheit zu suchen: 2009 hatte ich auf den Galápagosinseln mit einer jungen Schweizerin die Katamarankajüte geteilt, sie im Frühling darauf in Zürich besucht, wo auf malerischste Weise in rosa wogendem Schaum die Mandeln geblüht hatten, Alleebäume wie Jahrmarktszuckerwatte, und Lust gemacht, aufzubrechen. An einem Reisebüro hing ein Werbeplakat für Sharm el Sheikh aus, es war beschlossen, wir wollten zum Schnorcheln fliegen, MelMel und ich.

Wumpa, Wumpa, Buuuuum!!! Bäng, Wumm, Wumm, Wumpa Duuuum!! Was hatte ich mir da angetan? Ein billiges Pauschalangebot zu buchen, um stundenlang am Hotelstrand mit geschmacklosen Disco-Beat-Floskeln beschallt zu werden, umgeben von röhrenden, betrunkenen Klischee-Russen und -Polen?! Ich versuchte, mich irgendwie auf meine Tauchzeitschrift zu konzentrieren, die die Schönheiten des Roten Meeres pries – von abgekapselten Booten aus, ohne jeglichen Kontakt zu den Partyhungrigen des Festlandes… “Hello! Hello!” Ein breites strahlendes Lächeln, so echt wie mein Urlaubsgenuß. Ich blickte auf. “What´s Your name?” Wieder ein armer Angestellter, dessen Aufgabe es war, überteuerte Tagesausflüge Touristen aufzuschwatzen. “Claudia!” sagte ich. Ja, ich sagte Claudia. Und hieß dann Claudia – eine volle Woche lang, denn diese Sorte Angestellten merkte sich tatsächlich den Namen ihrer unwilligen Kunden und versuchte hartnäckig, sie zu becircen mit der Suggestion freundschaftlicher Nähe. “Claudia, how are You?” “Claudia, what are You doing?” “Claudia, do You want to see x/y/z?” Mit Lotte Hass hatte das nichts zu tun und ebensowenig mit Ozean, Natur, Schönheit, Freiheit. Wumpa, Wumpa, Buuuuuum!!

Da half nur: Kopf unter Wasser. Allerdings nicht am resorteigenen Strandabschnitt, der nämlich war völlig kaputt getrampelt; logischerweise nicht der Sand, sondern die Korallenbänke dahinter. Man mußte ordentlich die Beine in die Hand nehmen, um die komplette Hotelburgen gesäumte Bucht abzumarschieren, ehe man auf ein wildes, herrenloses Stück stieß. “Warum schwimmen wir nicht einfach rüber?” fragte MelMel, auf das sonnenbeschienene Azur deutend. “Ins Tiefe? Ernsthaft? Und die Haie?” fragte ich skeptisch. “Feigling!” pfefferte sie mir entgegen, mir zu Fuß stapfend murrend folgend. Noch im selben Sommer las ich einen Mini-Zeitungsartikel, der lapidar zu berichten wußte, daß in exakt jener Bucht eine Schwimmerin Opfer eines tödlichen Haiangriffs geworden war.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert