159 Verdreht im Kopf

159 Verdreht im Kopf

München, Januar 2021.

Kahlschlag im dörflichen Wald, alles umgenietet, was älter als 40 Jahre alt war, hunderte mächtige Bäume, darunter Fichten mit herrlich saftigem Holz ohne jede Moderstellen, bei denen ich 200 und mehr Ringe zählte, als ich zum Abschied meine Hand auf die harzende Wunde legte, und Eschen, “wegen dem Pilz”; wir wissen ja mittlerweile, daß unsere Verantwortlichen nicht in der Lage sind, einen adäquaten Umgang mit solchen Thematiken zu pflegen. Ein paar Buchen, darunter auch Urgetüme, wie es sie kaum noch gibt in Deutschland und Europa, sind verblieben, dieses Mal, die holen sie dann in der nächsten Saison oder der übernächsten, “wegen der Verkehrssicherheit”. Ich mußte an die Buschwindröschen und Narzissen im Frühjahr denken, die verwilderten purpurnen Lenzrosen und blauen Veilchenteppiche, abgelöst im Frühsommer von filigranen, ungefüllten weißen Zwergrosen und später dann ersetzt durch die Wespen umsummte Violette Sumpfwurz (eine Orchidee): Erinnerungsschätze, platt gewalzt von Technikmonstern. “Gehen Sie doch nach Kanada!” sagte der Forstarbeiter. “Da gibt es genug Bäume!” Wir stritten, die drei älteren Männer und ich, sie nannten mich hochnäsig und Töchterchen (so viel zum Frauenbild, das hier gehegt wird) und Querdenker und fanden sich mächtig dabei und freilich im Recht. Ich fragte sie, ob das die Art Wald sei, die sie ihren Enkeln bei einem Spaziergang zeigen würden. Da überfiel unsere Gruppe ein Schweigen. “Wächst ja wieder.” maulte der eine, auf den Boden starrend. “Das wird von uns -” ich schaute sie der Reihe nach an und deutete zuletzt auf mich, die ich die Jüngste war, “aber keiner mehr erleben.” Ich ging. Mit einem fürchterlichen Ächzen, Splittern, Krachen, Donnern und Beben – wie ich dieses Geräusch hasse! -, fiel der nächste Stamm. Ich hatte an das Volksbegehren geglaubt im vorletzten Jahr, hatte mich über den Sieg gefreut, den der Wille der Bevölkerung zum Naturschutz errungen hatte gegen das Artensterben, gegen die weitere Vernichtung ökologischer Lebensräume und Nischen. Jedoch: mitten im Winter, mitten im Lockdown, wo die Menschen keinerlei geistig-seelische Ablenkung finden, kein Kino, kein Museum, kein Lokalbesuch, ja, wo sie nicht einmal Menschen treffen sollen, mitten in dieser Zeit der Isolation also, des Aus- bzw. Eingesperrtseins, in einer Zeit, wo der dörfliche Wald von Flaneuren und Joggern geflutet worden war wie noch nie die 35 Jahre meines Lebens zuvor, genau in dieser Zeit beschließt die bayerische Staatsregierung einen Kahlschlag. “Ach, Sie (verwöhntes Ding meinte er damit), wir haben es doch so gut! Wenn man da mal nur an die Menschen anderswo in der Welt denkt!” Triumphierend-herablassend lächelt mich der Mann an, dick und untersetzt. Und ich betrachte sein Lächeln, das siegessicher und verächtlich daherkommt, und sehe wie fast jeden Tag diese Frau in den Simien-Bergen vor mir, es läßt mich verstummen, das Bild.

 

Äthiopien, Februar 2019.

Auf dem Programm stand eine Kaffeerunde bei einer einheimischen Dame. Witwe sei sie, Außenseiterin, betreibe die Einladungen als Zuerwerb, wenn sich Trekker der Simien-Berge dorthin verirren und enstprechende Gelüste mitbringen, schließlich sei äthiopischer Kaffee hochberühmt. Sie sei etwas betuchter als die restlichen Dörfler, da könne man als Tourist durchaus unbedenklich einkehren. Wie das denn funktioniere, will einer wissen von uns, daß sie Witwe und Außenseiterin sei und trotzdem die Vermögendste des Ortes. Prostitution, sagte der Guide, uns wurde ganz anders, als wir es hörten. Voller Mitleid beobachtete ich jede einzelne Handhabung der Frau vor mir, die etwa in ihren späten Vierzigern sein mochte. Sie hatte uns hineingebeten in ihre Hütte, Lehmputz mit Strohdach, für europäischen Standard extrem beengte Verhältnisse, kaum Licht im Inneren, unsere Augen mußten sich erst umgewöhnen. Der Boden vor der Türschwelle unterschied sich nicht vom Boden hinter der Türschwelle, blank getretener Lehm, auch dort; alles bestand aus Lehm: direkt neben dem Eingang war eine Bank an die Mauer angefügt, Lehm an Lehm, darauf saßen wir fünf dicht gedrängt; als Unterlage dienten verwuschelte, nach Rauch riechende Ziegenfelle, in denen Dreckkrusten hafteten, die sich nicht mehr ausschütteln ließen. Gleich uns gegenüber, wir hätten sie bei ausgestrecktem Arm berühren können, hockte ebenerdig die Gastgeberin in weites Baumwollgewand und Turban gekleidet, damit beschäftigt, die Bohnen zu rösten, zu zerkleinern, aufzugießen, etc. Ihre Küche bestand aus einer Feuerstelle (keinerlei Gerätschaft, ich spreche von Lehmboden, Holz, Reisig, Abzug) und dem Topf, in welchem unser Wasser allmählich zu sieden begann. Ein zweiter Raum schloß sich an, nicht getrennt durch eine Tür oder ähnliches, darin weitere gemauerte, tierfellbestückte Bänke (die Betten), gleich daran anschließend ein breites, von der Decke hängendes Laken. “Möchte jemand auf die Toilette?” Wir kuckten den Guide an. “Sie ist sehr stolz, müßt ihr wissen, daß Sie ein eigenes Klo im Haus hat und sich nicht eines gemeinschaftlich draußen im Freien teilen muß.”, er deutete auf das Laken… Ich benutzte dieses Plumpsklo, ein großes Loch im Boden, daneben ein Plastikeimer zum Nachkippen. Es graute mir vor dem, was die Bewohnerin als Luxus empfand. Jeder der Anwesenden konnte mein plätscherndes Geschäft vernehmen, ich beeilte mich. Ein Huhn verharrte auf der Schwelle zwischen Haus und Hof. Es stolzierte an uns Touristen vorbei, passierte das Kochfeuer und flatterte frohgemut auf die Bank im Nebenraum: das Bett der uns bewirtenden Dame und sehr wahrscheinlich auch das Bett, das dem Haupterwerb diente, der Prostitution. Ich weiß noch, wie mir die Hände zitterten, als ich aus dem kleinen, dargereichten Gläschen den frisch zubereiteten Kaffee trank. Nicht ein Wort sprach die Frau zu uns, suchte keinen Blickkontakt, bloß das Huhn scheuchte sie irgendwann hinaus.

Jeden einzelnen Tag fast denke ich an diese Frau und diese Hütte, jeden Tag in dem Jahr, in dem sich nirgends Touristen verirrt hatten, um mit geringsten Beträgen den Einheimischen die ärgste Not zu lindern, Menschen, für die der “Hashtag Solidarität” nicht gilt, – und dieser der Völlerei offensichtlich nicht ganz abgeneigte Forstarbeiter, der mir innerhalb einer Woche meine Heimat gestohlen, kaputt gerodet hat, grinst mich an und sagt mir, ich verwöhntes Weiblein, ich hätte keine Ahnung vom Leben und von der Armut.

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