134 Odysseus´ Sirenen

134 Odysseus´ Sirenen

München, Juni 2020.

Macht es einen Unterschied, an einem hundertjährigen Möbel zu schreiben? Ja, tatsächlich. Der zierliche, billige Asus darauf ist in Himbeersorbetrot gehalten, fast der gleiche Farbton, wie ihn das Dompfaffmännchen trug heute Morgen: es saß in einem von smaragdgrünen, glänzenden Efeuranken umwundenen Buchenbaum, eine Laterne im Düster der regnenden Bindfäden.

Ich bin den Zweifel leid, das Hinterfragen etwaiger Fehler, das innerliche Entschuldigen irgendwelcher Vorkommnisse (meist eher: Zeilen), die der Adressat längst vergessen hat oder ad acta gelegt, wie auch meine Person. Sich nicht selbst zu wichtig nehmen, das Gegenüber nicht zu wichtig nehmen: gerade letzteres dünkt mir der Irrtum in meinem Handeln. Ich bemesse Begegnungen Bedeutung bei, die sie gar nie innehatten. Atmen, Ein, Aus, Lauschen, Lächeln, vielleicht mit Tränen in den Augen. Die Wut aus dem Bauch herauslassen, ganz wichtig, Wut, die nur aufbläht und mehr nicht.

So viele Länder, die locken, so viele Reiseziele, manchmal verliert man den Überblick, verfällt in Unentschlossenheit, gerät ins Zögern und Stocken. Was ist Wille und was Laune?

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die online Medien nutzen, um Filme anzuschauen, kein Streamen, kein Youtube, kein Zoom; ganz, ganz selten einmal eine Dokumentation der Arte Mediathek: über Louboutin, Lagerfeld, James Tissot.

Ich mußte das an meinem Emailfach zufällig eingeblendete Video anklicken, ich mußte es tun! Es ist kurz und belanglos, man erkennt nichts als Tundraboden, abgelaufene Lederbergschuhe, eine im Schoß ruhende Spiegelreflex und einen Polarfuchs in weißem Winterpelz, wie er sich dem sitzenden, anonym bleibenden Mann nähert, unerschrocken, und neugierig die Knie beschnuppert, das Objektiv; ein süßes, mutiges, apartes, hunde- oder katzenartiges Säugetier in freier Wildbahn mit schwarzen Knopfaugen, das die Distanz aufhebt zwischen Mensch und Natur. Niedlich. Banal. Ich aber war völlig aufgewühlt! Ein Fotograf auf Grönland! Carsten (Egevang)? Charlie? Audun (Rikardsen; vgl. Beiträge 9, 10 und 44)?

Sehr wahrscheinlich jemand völlig anderes, ein Unbekannter, und trotzdem: ich sehe diese karge, zauberhafte Vegetation aus Zwergbirken, Moosen und Flechten, die sich an die Felsebene klammern, sie umfassen wie eine aufwendige Schmuckmontierung aus meisterlichem Filigrandraht, sehe die grellen Farbtupfen, schmecke die Kälte und den rauen Wind, alles in mir vibriert, klingelt, schreit, und ich weiß: dorthin geht es, zurück nach Grönland, ganz sicher. Wieder einmal habe ich mich nicht entschieden, nein: ich wurde gerufen. Wer oder was es ist, ich vermag es nicht zu sagen, ich fühle es bloß, spüre, wie die Landschaft sich nach mir ausstreckt, mich zu sich zieht wie Odysseus´Sirenen, und ich werde gewiß nicht die Ohren verstopfen, mich dem Gesang zu entziehen, nein, ich werde ganz genau hinhören, denn der Schiffbruch ist es mir wert, diese Musik aufzunehmen in mich. Dann nämlich ist alles gut und die Fehler (wirkliche wie erdachte) werden nichtig und verzeihen sich selbst und man ist zu Hause an seinem Platz dort in der Fremde, in der Wildnis, und ich freue mich darauf, wie Kinder auf ein großes Fest, freue mich auf Grönland irgendwann. Ihr nennt es Urlaub? Für mich ist es Sein.

Heil, ganz, echt, sinnvoll, friedsam.

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