10, Teil II: Heldensammlung erweitert (um menschliche wie tierische Exemplare)

10, Teil II: Heldensammlung erweitert (um menschliche wie tierische Exemplare)

Grönland, September 2017.

Kurz nach der Ankunft erkannte ich Audun Rikardsen am Gepäckband sofort, einen charaktergesichtigen Hünen von geradester Haltung, energiegeladen und zentriert zugleich, der zu Jeans ein blau-weißes Ringelshirt samt mit orangen Strelitzien bedruckten Ärmeln anhatte, ein Kleidungsstück so ungewöhnlich und auffällig wie sein Träger selbst. Der Mann eine Marke, ein Unikum ohne jede Eitelkeit. Preisgekrönt, anerkannt, Einzelstreiter, kreativ, wißbegierig, hartnäckig, humorvoll. Er war, wie man ihn sich vorstellte, nur besser. Unverfälscht. Carsten Egevang hingegen, der zweite Workshopleiter, hatte mir nichts gesagt, wie ich peinlicherweise eingestehen muß, ein weiterer Fotograf eben, einer von vielen, die wie Sand Strände bildeten in der zeitgenössischen digital überfluteten Bilderwelt. Zurückhaltend, ruhig, meditativ, abwartend, beinahe selbst einer seiner Schwarz-Weiß-Abzüge, Nuancen von Grauschattierungen, manche seidig-seicht, andere tief-grollend. Ich erkannte meinen Irrtum sehr schnell, als in der Hotellobby der Viersterne-Plus-Konferenz-Unterkunft ein zwei Meter langes, auf AluDubond abgelichtetes Foto aus Egevangs Schöpfung prangte, das eine Horde Schlittenhunde in voller Bewegung in Nahaufnahme portraitierte, eine Meisterleistung an Komposition und Ausdruckskraft, und als ein für die Stadtführung angeheuerter Guide mit strahlendem Gesicht Carstens Hand eifrig schüttelte, ihm dabei wieder und wieder versichernd, welche Ehre es ihm sei, dem Grönlandfotografen höchstpersönlich zu begegnen. Hoppala. Ich lächelte in meinen Cappuccino hinein. Womit mochten die anderen der Gruppe gerade beschäftigt sein? Ich würde später erfahren: mit Shoppen (Charlie hatte Seehundkrallen ergattert, die er ebenso zu Schmuck zu machen gedachte, wie Trine ihre Rentierfellstücke in Armbänder umnähen wollte), Nickerchen (ein paar der älteren Teilnehmer litten noch mehr unter den überaus kurzen Nächten und tatenvollen Tagen wie ich selbst), freilich Fotografieren (Eva hatte mit Mitte 50 ihren Job als norwegische Radiomoderatorin aufgegeben, um ihr Geld nun mit stilvollen Aufnahmen zu verdienen, wobei ihr ihre Hochsensibilität und das damit verbundene Einfühlungsvermögen zugutekamen), Spazieren. Adele war inzwischen abgelöst worden von einem belgisch-ruandischen Sänger, Stromae, der französische Texte zu Diskobeat und arabischen Anklängen kombinierte. Ich kuckte auf meine Notizen, in englischer Sprache gehalten, Entwürfe, denn ich wußte schon jetzt, ich würde ein paar Zeilen überreichen zum Abschied an Carsten und Audun, weil meine eigentliche Leidenschaft nämlich nicht das Fotografieren war im Sinne einer wesenhaften Berufung, sondern viel mehr das Schreiben: ein Festhalten von Bildern mithilfe anderer Medien und neuronaler Leistungen, im Grunde aber ersterem sehr ähnlich. So war ich die einzige gewesen, die das Ereignis dieser Reise schlechthin nicht mit dem Zücken meiner Nikon verbracht hatte, sondern mit einem bloßen Anwesendsein und Im-Moment-aufgehen. Jeder quälte sich aus seinen Wander- bzw. Schneestiefeln, bereits Zähne klappernd in der Frostluft des kleinen, hölzernen Piers abseits der Hauptanlegestellen. Über all die Schichten aus Kleidung – Shirts, Pullover, Westen, Jacken, Mäntel, Unter- und Trekkinghosen – wand man sich umständlich mit klammen Fingern in einen wasserabweisenden Thermoanzug hinein, der einen in Astronauten oder Michelinmännchen verwandelte, bekrönt von einer leuchtend roten unbequemen Schwimmweste. Dergestalt (und wieder mit Schuhen bestückt) wankte die Gruppe unbeholfen, schwerfällig über die Bootswand auf die knapp bemessenen Sitze, ehe das motorisierte Schlauchdingi den schützenden Hafen verließ. Das Geplapper verstummte im brausenden Dröhnen der Gischt aufspritzenden Fahrt. Häupter zeichneten die Silhouetten der Eisberge nach, folgten ihren Strukturen, Texturen, Linien. Jahrtausendealt ruhten die Massive in Schattierungen aus Weiß, Grau, Hellblau, Zartgelb; kompakt, spitz, weich gewaschen, ausgehöhlt, zerklüftet, dumpf, filigran, majestätisch, schweigsam. Wie eine Kulisse wirkte das gefrorene Wasser, ein Bruchteil nur dessen, was an es Massen in Grönland und Arktis überhaupt gab, ein bißchen Eis, das einen ungeheuerlichen Eindruck hinterließ, ein Gefühl von Demut, Dankbarkeit, Ehrfurcht, Gnade. Mehr einer Bühnenszenerie gleich erwartete man in jedem Augenblick, das Geschwisterpaar aus Andersens Märchen der Schneekönigin erscheinen zu sehen, illuminiert von einer wechselnden Theaterausleuchtung, mal blendend hell wie geschmolzenes Silber, durchwirkt von goldenen Partikeln, mal stürmisch-anthrazit mit einem zarten Streifen vanille. Es dauerte keine zwanzig Minuten zischend-rasanter Fahrt die Kette der urförmigen Eisgebilde entlang, zuweilen begleitet von einsamen Möwen, da ertönte es unvermittelt scharf im Wind, während der Blas in den Himmel schoß und zerstäubend niederfiel, Atem eines Wesens, das etwa 28 tausend Kilo wiegt, Urgewalt an Lebenskraft, essentieller Schönheit. Zehn Tiere vermochten wir über zwei Stunden lang zu beobachten, wie sie Plankton und Krill filterten, aus einer Entfernung zwischen zwanzig und drei Metern. Schwarze, glatt glänzende Haut, weiße durch das Wasser pflügende Brustflossen, typische Höcker und buckelartige Ausformungen. Beim Abtauchen zuweilen ein elegant gekrümmter Rücken, der wie zum Gruße mit einem gewaltigen Dreizack winkte, individuell gemustert. Das gluckernde Wasser, das Atemgeräusch. Die ungeheure Größe, die unbeschreibliche Nähe – auch geistig, vor allem emotional -, die Ausdrucksstärke, die pure Präsenz dieser Kreaturen brannten sich in aller Poren, Augen, Seelen ein, niemand konnte sich dieser Energie, Elegie, diesem Sog magischer Art entziehen, ein Zauber, den nur solche zu begreifen in der Lage sind, die ihn tatsächlich erleben dürfen. Buckelwale vor einem Eisgebirge im ewiglich-weiten Wasserraum – göttlich. Es klickte fast ununterbrochen, die Kameras wurden stark beansprucht, der Bootsführer, der Professor für Meeresbiologie, der Grönlandexperte: sie waren genauso aufgebracht und endorphingeschwängert wie die touristische Gruppe aus Laienfotografen, ein seltenes Glück hatte sie gleich gemacht und vereint in einem außergewöhnlichen Ereignis. Als ich später während der Workshopstunden im drögen Konferenzraum die Fotos der anderen sah, schickte ich stoßweise Dankesgebete gen Himmel, daß ich meine Zeit mit Schauen und Spüren verbracht und nicht hinter der Kamera verschwendet hatte: die Bilder zeigten nichts als ein paar gekrümmte Rücken und Flossen und plumpe Säugetiere, sie hatten das menschliche Ermessen, die Interaktion mit der Natur nicht annähernd einfangen können. Ich nahm einen letzten Schluck vom erkalteten Cappuccino. Wir waren zum Lake Ferguson gewandert durch herbstlich gefärbte Tundra und an einsamen Bergen vorbei, hatten in Dreimannzelten mit vollkommen Fremden genächtigt, Fleisch auf losen, Feuer erhitzen Steinen geröstet, mit Ananasstücken aromatisierten Reis gegessen, zwei Herden Moschusochsen beobachtet, ein Rentier, diverse Schneehasen und -hühner. Wir hatten uns schwere, metallene Steigeisen, bewährt mit stattlichen Spikes, an die Fußsohlen geschnürt und waren unsicher über Gletschergelände gestakt, hatten einen langgestreckten Fjord per Schiff erkundet, vorzügliches einheimisch gebrautes Bier genossen und versalzenes Krautgemüse erlitten, uns schmerzende Blasen an den Fersen geholt, kaum geschlafen, bitterlich gefroren. Ich lachte kurz auf. Auf einem meiner Streifzüge auf eigene Faust hatte ich es fast fertig gebracht, Dreharbeiten zu ruinieren. Ein entlegener Küstenpfad wand sich durch mystisch feuchten Nebel, sich immer tiefer bohrend in eine allgegenwärtige, allmächtige Stille, in der nichts existierte als man selbst, die felsige Tundra und das Eis draußen auf dem Meer, als ich das dringende Bedürfnis verspürte, mich zu erleichtern. Keine Person weit und breit, nicht einmal das stetig begleitende Heulen der halbwilden, angeketteten Hunde war zu hören gewesen. Ich entschied mich aus einem vagen Bauchgefühl heraus, noch einer weiteren Windung des Weges durch die klamme, regennasse arktische Vegetation zu folgen, wobei ich nach der Biegung auf einen Kameramann prallte, der ein riesiges Ungetüm in den Händen hielt, ein Monsterapparat an Video-Equipment. Auf seiner Jacke stand unübersehbar fett: Filmcrew. Ui, ein unglaublich aufwendiger Dokumentarfilm, dachte ich mir, beinahe hätte ich mich pieselnd in einer Sequenz verewigt gehabt. Ich nahm einen riesigen gelben Schirm wahr, der wohl etwas gegen den unangenehmen herabschnürenden Regen ausrichten sollte, doch peitschte der Wind viel zu stark, als daß ein Fleckchen Erde hätte trocken bleiben können darunter. Sonderbare Drehbedingungen, überall wuselte es vor Leuten, ich sah zu, daß ich Land gewann und setzte meinen Spaziergang geschwinden Schrittes fort. Am nächsten Tag platzte meine Zimmergefährtin aufgeregt in den Frühstücksraum: „Weißt du, wen ich gerade getroffen habe?? Cate Blanchett!“ – Wie gut wäre man wohl von Hollywood als Pippi machender Statist bezahlt worden, in modernem Outdooroutfit, während sie gerade versuchten, mit Chris Hemsworth an einer Thor-Saga zu arbeiten …? Die Sonne kletterte hinter eines der gegenüberliegenden Gebäude, eine abrupte Düsternis im Café absenkend. Ich überflog ein letztes Mal kurz meine geschriebenen Worte an Carsten und Audun. Ich besaß keine dem Workshop adäquate Ausrüstung, kein ausreichendes fotografisches Wissen. Ich war nicht annähernd so energiegeladen wie die beiden Profis. Erfolgreich. Geschätzt. Ein kleines, unbekanntes Mädel von deutschem Lande mit mittelmäßigen Englischkenntnissen, das sich selbst von einer Naturfoto-Ausstellung über eine Homepage hinaus nach Grönland katapultiert hatte, einer abstrakten Bewunderung für einen völlig fremden Menschen nachgebend. Die rotbärtige Wange, die es zum Abschied drücken durfte, war nicht abstrakt gewesen, sondern warm und menschlich, und der gestandene, hartgesottene, perfekte Held offenkundig innerlich tief berührt, als er sich bedankte für die paar Zeilen, und das letzte, was er sagte zu mir – ausgerechnet mir! -, war: „So strong.“

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