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München, August 2023.
Hat man jemanden gern, oder hat man die Idee von jemandem gern? Oder hat man gern, daß jemand positiv reagiert auf einen? – Es gab früher eine alte Dame, der ich manchmal beim Gassi begegnete; sie hatte einen kleinen Mischling, der zufällig aussah wie ein Japan Jin, mit leichtem Überbiß und dem Namen Tiffy. Es war „die alte Frau Moosbach“, so nannte ich sie, und zwar sehr liebevoll. Sie war ziemlich klug, doch niemand wußte davon, nicht einmal sie selbst. Wenn wir uns trafen, strahlten wir uns an, freuten uns jedes Mal ganz aufrichtig, vielleicht alle zwei, drei Wochen kam das vor, weil unsere Zeiten so unterschiedlich waren. Irgendwann sagte sie, ihr Name sei Kläre, und seitdem war sie Kläre Moosbach für mich; einen gewissen Respekt (etwa das „Sie“ in der Anrede) hielten wir stets bei, es regelrecht zelebrierend. Ich mochte sie. Und sie mochte mich. Einfach so. Ohne Idealisierung, ohne „Zweck“ oder Erklärung. „Wie schön, daß ich Sie noch einmal treffe!“ rief sie mir von weitem zu. „Ich habe es mir so sehr gewünscht!“ Ich wunderte mich, sie war wie immer, eine Seniorin von Mitte achtzig, ein wenig gebrechlich, aber fidel… Kurz darauf wachte sie aus dem Nachmittagsschlaf nicht mehr auf. Während ihrer Beerdigung spielte ihr erwachsener Enkel Geige – manchmal ging es mächtig daneben, weil er so weinte. Ich vermisse diese fremde alte Frau wirklich. Aber vermisse ich sie deshalb, weil sie mich mochte? Einfach so, quasi bedingungslos? Weiß man eigentlich, wie wunderbar es ist, wenn sich jemand freut, einen zu sehen? Mir passiert das sonst nie. Also doch egoistisch, meine Trauer? Ich kann es nicht sagen. Oft bin ich im Wald, mir wünschend, sie käme um die Ecke gebogen mit ihrem Rollator und dem kleinen schwarz-weißen Wuschelhund. Sie würde winken und wir lustig plaudern (oder uns über den Förster echauffieren). Ich glaube, sie war eine sehr herzliche, liebevolle Frau – das ist doch schön, wenn man das hernach über einen Menschen sagen kann.
Es war eine Freundschaft wie ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist; das man unvermittelt aus Gedanken gerissen am Boden findet; das man aufliest, sich über die unerwartete Begegnung freuend, das man hegt und pflegt, dem man bei sich ein zu Hause gibt, wo man es aufpäppelt, nährt und wachsen sieht. Man gewinnt es lieb, es wird zur Routine, reift heran; und irgendwann, eben ganz unweigerlich, ruft es nach Freiheit, da weiß man, daß man es ziehen lassen muß, daß es bereit ist, auszufliegen. Geistiger Nomade, der ich bin, kann ich nie lange bleiben, interessiert bleiben, meine Arroganz, oh weh, mein Ennui, der nur echten Pariserinnen steht oder hochherrschaftlichen Ladies. Ich habe sie gekostet, die digitale Welt, sie war ganz nett, nur eben ohne Substanz – eine Sprachnachricht ist kein Mann und eine Frau keine Mail.
Sein Klingelton war ein Grillengezirpe, den ich oft zu hören kriegte, denn er hatte die Gewohnheit, zu telefonieren per Headset während der Gassirunden (mit seinem über alles geschätzten und aufopferungsvoll gehätschelten roten Dackel) und wurde ständig angerufen unterwegs, etwa täglich von den in seiner Heimat Israel lebenden Eltern, oder Leuten, die sich geschäftlich bereden wollten. Er war Künstler; eines unserer letzten ausführlichen Gespräche drehte sich um das fertig gestellte Projekt einer Ausgestaltung mehrerer Bereiche eines großen Kreuzfahrtschiffes. Wir unterhielten uns immer gut, meist über Kultur, Ästhetik, seine Arbeit im Atelier oder das Schaffen seiner Partnerin (ebenfalls Künstlerin), meine Reisen oder über Dokumentationen wie My Octopus Teacher, 2020 (ein Film, den er als außergewöhnlich anrührend empfand und welchen er mit leuchtenden Augen schilderte). Nun, ich saß gerade im Hofgarten, gestern war das, um vierzehn Uhr, der Magen noch völlig nüchtern, vor mir ein prächtiges Stück von Münchens bestem Käsekuchen auf dem Teller, das mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Der erste Bissen dann verwandelte sich in Löschkalk: ich hatte gegen Gewohnheit mein Handy neben mir liegen gehabt und sofort eine eingehende Nachricht gecheckt. A. ist tot, stand da. Kaum mehr. Seitdem scanne ich in Gedanken jede einzelne unserer vielen Begegnungen der vergangenen fünf, sechs Jahre durch, wiederhole unsere Dialoge im Kopf und sehe ihn dabei meist: lachen. Wir waren etwas weniger als Freunde und deutlich mehr als Bekannte, irgendetwas dazwischen waren wir gewesen. Ich wußte, daß es ihm nicht gut ging – wem geht es gut in diesen Zeiten? Ein Kommen und Gehen, so meinte ich bei mir; es ist ein Abtritt geworden.
Hat man jemanden gern, oder hat man die Idee von jemandem gern?