214, Teil II: Jerseys Blumen (Fortsetzung von 211)
England, September 2022.
Und immer sind es die Blumen, die Pflanzen, die die Emotionen verdichten und Bilder heraufbeschwören; die blauen, bordeauxvioletten, visuell knisternden Hortensienbälle, noch im Verblühen schön, sonnenbleichender Seide ähnelnd, die versteckt in Schattenstellen die Dürre überlebt haben. Teppiche aus Alpenveilchen (ein rascher Erinnerungssprung nach Israel und gleich wieder zurück, vgl. Beitrag 139), zwischen braunem Altlaub emporwachsend, im Hintergrund verschwommen die Folie knorriger Eichen; Alpenveilchen, die dazu einladen, mit der Perspektive zu spielen, Zeit zu vertrödeln, das Wandern einzustellen, die Kamera bewußt zu bedienen. Jemand, der um die Ecke biegt, als ich gerade die Bahnen eines Hagebuttengewirrs vor der Felswand aufnehme, auf dem Gesicht zunächst Überraschung, gefolgt von Wohlgefallen, etwas das ich nicht oft erlebe. Hübsch ist er, athletisch, mit feinen Tätowierungen geschmückt, er trägt das mittellange, blonde Haar im Nacken zusammengefaßt. Er lächelt mich an, sein schwarzer, zottiger Mischlingshund bestürmt mich neugierig. Ich grüße freundlich und weiß: ein weiteres Wort von mir und wir trinken vielleicht einen Kaffee oder ein Ale zusammen, aber ich bleibe stumm, nicht aus Schüchternheit, Verlegenheit, sondern weil ich mich nicht wieder vergebens verlieren will in einer Begegnung, nicht jetzt, nicht nach diesen Jahren der seelischen Verrohung, nicht bevor es ganz verheilt ist. Ich gehe vorüber, weiter, ohne mich umzudrehen und fotografiere die eigentümlichen Jerseylilien, endemisch, die höchst sonderbar, ja kurios anmuten mit ihren glatten, nackten, kupferbräunlichen Stielen ohne jedes Blatt und mit ihren großen überhängenden rosa Trompetenblüten. Am Devil´s Hole wird der überlebensgroße Steinsatyrn in einem Teich aus giftleuchtenden Wasserlinsen stehen, am einzigen Weingut der Insel mich am meisten ein Strauch romantisch gefüllter Rosen interessieren, geradezu bezirzen. Vierzig viktorianische Apfelsorten, zwanzig Birnensorten des 19. Jahrhunderts klären mich über die Obstfreude einer vergangenen Epoche auf, die Geschmack, Aussehen, Varietätenreichtum zu schätzen wußte und dem pflegeleichten Anbau, dem schnellen maximalen Gewinn vorzog. Ich wandele über das Gelände eines ehrwürdigen Herrenhauses, dessen Parkareal zum Botanischen Garten umgewidmet worden ist, dort einen einstigen Taubenschlag bewundernd, der als riesiger Rundturm 500 Vögeln Platz geboten hat. Ein originales asiatisches Teestadl prangt gerahmt von den gigantischen Vorhängen einer Trauerweide, majestätische jadene Ghirlandenstreifen. Eine japanisch angehauchte Anlage kündet in ihrer Grundstruktur von den Ambitionen derjenigen, die sie erschaffen hatten: einige Ahornbäume versprühen das idyllische, obligatorische Rot und Gelb und Orange, Wasser rinnt in gezähmten Weisen vorüber, fällt in Treppen nieder, ja; aber der Garten weist erhebliche, störende Lücken auf, Fehlstellen, Unstimmigkeiten, sein optischer Fluß ist gestört, das Feng Shui nicht rein und einen durchdringend, sodaß das Nachdenken, die stille Erkenntnis ausbleiben, die Meditation mißlingt. In der Rozel Bay nehme ich auf einer Dachterrasse Platz, an einem Tisch, der von charmanten, eleganten weißen Clematis umrankt ist, aus denen die Bienen trinken. Ich bestelle Scones mit Erdbeermarmelade und Clotted Cream. Die äußerst unfreundliche Bedienung lächelt, als ich sie frage, ob das Tattoo ihres Unterarmes ein Sternzeichen zeige und verneint; es sei ein Yin und Yang Symbol in Fischform, sie studiere Meeresbiologie. Grundgütiger, daß mich das immerzu verfolgt… Ich gratuliere ihr zur meisterlichen Schönheit der Gestaltung, doch ist sie bereits wieder hinabgestiegen in die Tiefen ihrer schlechten Laune, die sie freimütig an den Gästen ausläßt.
Ich bugsierte den Mietwagen durch die erschreckend schmalen Sträßchen, oft einspurige Hohlwege, von uralten Laubbäumen umfangen, deren Kronen sich einander zuneigten, sodaß natürliche Tunnel entstanden. Ich schwitzte, der Streßpegel schoß abermals in die Höhe. Ich hatte morgens das Smartphone im Bus verloren, der mich zum EuropCar-Schalter des Flughafens kutschierte. Es war ein vier oder fünf Jahre zählendes Telefon mit zersplitterter Rückseite, dessen Kamera längst nicht mehr funktionierte, doch fühlte ich mich tatsächlich ein wenig hilflos ohne es, ohne Kontakt nach Hause – würde Montana brav bleiben, wie erging es dem verschnupften Huhn, gab es viel zu gießen daheim oder gar Ärger? Nun ja, ich würde es erst abends erfahren (ich konnte nämlich das im Fundbüro abgegebene, ramponierte Handy tatsächlich abholen). Nun jedenfalls betete ich inbrünstig, es möge kein Gegenfahrzeug kommen und beglückwünschte mich zum Entschluß, das allerkleinste Automodell gewählt zu haben, einen 2Sitzer Smart, winzig. Winzig – und ohne Servolenkung! Mir war nie bewußt gewesen, was dies überhaubt bedeutete; nun lernte ich es im ungewohnten Linksverkehr kennen, ich glaubte, einen Lastwagen zu steuern oder einen Panzer, solch ein Kraftakt während des Drehens des Lenkrades, puh! Die Ader an meiner Schläfe pochte; zum x-ten Mal polterte das externe, billige Navigerät von der Scheibe, der Saugnapf war ausgeleiert und pappte nicht mehr richtig. Meine Vorstellung eines entspannten und vor allem effektiven Besichtigungstages kollidierte unsanft mit den realen Gegebenheiten… Die engen, gewundenen Alleen öffneten sich zu einer verwinkelten Ortschaft hin, Garment dirigierte mich akustisch, es war unter den Sitz gefallen. Endlich ein Hinweisschild, ein Parkplatz! Völlig verlassen entfaltete er sich hinter der Einbiegung, hatte die Stiftung überhaupt geöffnet? Schweiß triefend und gewiß mit wenig aparter Aura betrat ich die Eric Young Orchid Foundation.
Bei Gewächshäusern denke ich stets an die Orangerien des Barock, an die erlesenen Zitrusbäume damals; ich denke an fantastische Glas-Stahlbauten, weiß lackiert, der britischen Ingenieure, und daran daß all die Konstruktionsstreben an Rippen, Brustkorb, Rückrat riesiger Wale erinnern. Ich denke an die unzähligen Reisen zu den Botanischen Gärten Europas und der Welt, an meinen Enthusiasmus als Studentin, als die Miniaturdschungel mir die Brücke zu den exotischen Wildnissen waren, die ich sonst nur aus Fernsehdokumentationen und Büchern her kannte, zu einer Zeit, als ich nicht einmal ahnte, wieviele herrliche Touren ich später unternehmen würde hinein in die echte, reale Natur dieser Erde.
Das Gewächshaus gehörte mir. Ich badete in den Grünnuancen des Chlorophylls, trank aus den Farben der fremdartigen Blüten. Ich sog die Düfte ein, süß, ziehend, opulent, vage, im Versuch, sie zu analysieren. Pauste im Hirn die Arrangements aus Farnen, Bromelien, Stauden, Sträuchern, Epiphyten und diversen Typen Orchideen ab, hunderten Orchideen. Ich spielte Humboldt, spielte Pflanzenjäger, wurde zur Merian. Ich bewunderte das Werk eines längst verstorbenen Großindustriellen, der seine Sammlung in eine Stiftung überführt hat, damit ich mich daran erfreuen konnte im Herzen Jerseys. Viele Leute sagen, sie mögen keine Orchideen, abgesehen von den Knabenkräutern und Kohlröschen und Waldvöglein und Sommerwurzen unserer heimischen Wiesen. Vielleicht haben sie nur nie richtig hingeschaut, sich versenkt in die Strukturen und Zeichnungen… Haben nie ihrer Musik gelauscht, der Lyrik ihrer Erscheinung, Anmutung. Ich ließ mich umspülen von einer Woge exquisit kuratierter und komponierter Pflanzen. Ja, Jersey, deine Blumen…