215, Teil III: Der Literat hat Urlaub

215, Teil III: Der Literat hat Urlaub

England, September 2022.

Vielleicht lag es daran, daß es mich nicht anfauchte. Es nicht brüllte, sich drohend vor mir aufbaute. Tags zuvor angekommen, im Hotel genächtigt, gefrühstückt und die zwei Kilometer gelaufen: ebenmäßiger, breiter, bilderbuchartiger Strand, gerahmt von einer Promenade, im Hintergrund die elizabethanische Burg, darüber ein braves Sonne-Wolken-Duett und vor mir also das qualvoll herbeigesehnte, drei Jahre lang schmerzlich vermißte Meer. Ratlosigkeit schlich sich ein, als ich wartend den Blick schweifen ließ, nicht unstet, doch auch nicht in der Szene aufgehend. Hundebesitzer flanierten die Bucht entlang, gemächlich, Bälle werfend, Bekannte grüßend, plaudernd. Jogger kreuzten ihre Wege, eine Mutter hatte den Buggy geparkt, um mit dem Sprößling Sandkuchen zu backen. Vereinzelt fanden sich angespülter brauner Blasentang, lakonisch herumflackende leere Muschelschalen, von der Ebbe gezeichnete Spurenschlieren. Möwen stakten umher. Jetzt verdammt noch mal, wievieler Klischees bedurfte es denn noch?! Hallo, Laura, jemand zu Hause?, du bist am Meer!! Horchen – Nichts. Ich hatte mir unsere Wiederbegegnung anders ausgemalt, hatte mir Seelenfeuer, euphorische Freude, entfesselte Freiheitsgefühle vorgestellt. Es war schön dort, ohne Zweifel, es roch frisch und wohltuend, der Wind trommelte sachte auf mir herum, Glitzerpunkte und türkise Sprenken winkten unbeschwert. Den Ozean in mir, den spürte ich nicht. Scheiße, jetzt hatte ich quasi den Reisekumpel ausgeladen, um alleine zu sein, alleine in der überwältigenden Flut zu Tränen rührender Emotionen, und nun regte sich: nichts. Kein Juchzen, kein Schluchzen. Ich war einfach bloß – Tourist… Ich fotografierte das einzige Äquivalent zu dieser Empfindung: ein unscheinbares Muscheldoppel, ausgedient, vergessen, banal.

“Also Frau Burggraf, das ist ja wirklich komisch, daß die App nicht funktioniert.” Brummen. “Das tut mir aber leid!” Knurren. “Und Sie können wirklich keinerlei Kartenmaterial laden?” Ich bestätigte unwirsch, um hinzuzufügen, daß ich erleichtert sei, mich auf einer winzigen Kanalinsel zu befinden und nicht in einem infrastruktuell mageren Dritte-Welt-Land oder im allerletzten Urwald. “Ich kucke, ob ich das bis abends repariert kriege!” Ich verlegte mich derweil auf Outdoor Active, mich gemahnend, künftig auf Self-Guided-Reiseagentur-Trips zu verzichten. Das Gute an der Sache waren vier reizende, liebenswürdige “Leidensgenossen”, die ich auf diese Weise kennenlernte, ein deutsches sowie ein britisches Paar. Na ja. So vollkommen verlaufen konnte man sich auf Jersey nicht, manchmal bin ich ein grober Prinzipienreiter. Wahrscheinlich ärgerte ich mich noch immer am meisten darüber, daß die großen Erkenntnisse aus-, die metaphysischen Schleusen geschlossen blieben und ich schon ab Tag zwei wußte, daß der persönlichkeitsverändernde Coup mich hier nicht ereilen würde. Ich trug meinen verhinderten – durch mich gehinderten! – Reisepartner in Form schleppend-schweren Gewissens Huckepack. Ich wollte Schriftstellerin sein, Intellektuelle, Frau durch und durch, Fotografierende, Denkerin, Laienphilosophin, während ich mich in Wirklichkeit zu beschränken hatte auf die Rolle der Wandernden. Die Liebe fehlt so sehr im Leben, und wenn es eine unglückliche sei: sachliche Vernunft und Abgeklärtheit sind Gift für die Kreativität… In wen sollte ich mich verlieben? Kein Held in Sicht, kein Gott. Was hasse ich angepaßte Langeweile! Prinz auf deinem weißen Gaul, du darfst vorüberreiten; du brauchst mich nicht zu bemerken, aber – bitte – gerate wenigstens ins Sichtfeld, damit ich etwas anzuschmachten habe.

Bestimmt auch deswegen hatte ich die Vulkan-Fototour für Februar 2023 gebucht, direkt nach meinem Geburtstag (meine Geburtstage gestalten sich unsagbar erbärmlich!, wie programmiert liegen sie in einem Zeitraum voller Streit und Winterblues; unerträglich triste insbesondere die drei zuletzt zurückliegenden inmitten eines Lockdowns). Ich glaubte, mich selbst zu beschenken mit der Einlöse eines Versprechens, meine Vorsatz-Liste abzuarbeiten, und diese Tour hatte seit Jahren darauf gestanden. Allerdings kitzelte mich auf Jersey die leise Befürchtung, daß auch dort kein Donner hindurchfahren würde durch mich. Meine größte, allergrößte Angst hinsichtlich persönlicher Entwicklung ist diejenige, das Beben zu verlieren, den Aufruhr, der alles durchschüttelt, neu mischt, formt, webt und die Essenz der Texte bildet, allen Strebens. Wenn die Berufung plötzlich schweigt und man nichts weiter ist als der Name in einem Paß… Ich hoffe, die glühende Lava wird stark genug sein, die Barrikade aus Enui, Gewöhnung, Mittelmäßigkeit zu zerschmettern und mich wieder zu dem zu machen, das ich eigentlich bin. – Was denke ich gegenwärtig auf Jersey an das Sizilien der Zukunft?!

Ich genoß den opulenten, fast obszönen Duft der gelben Lilien in einer der Hotellobbys; den Gewitterregen, der mich trotz Highttech-Cape bis auf die Knochen durchnäßte; die zu einem urigen Pub umgebaute Mühle aus dem 12. (!) Jahrhundert; die an der Grenze zum Kitsch herausgeputzten Fischerörtchen; erkundete die imposanten Burganlagen, die vor mir schon zwei Königinnen angezogen hatten (Viktoria und Elizabeth II);  nahm an der bekannten Air Show teil (die lediglich als abgespeckte Variante stattfand, angeblich aufgrund einer Schlechtwetterfront vor Großbritannien, viel wahrscheinlicher aber deshalb, weil die Queen augenblicklich im Sterben lag); ich trank Cider und Craft Beer, umrundete gemütlich in fünf Tagen entlang des Küstensaumes die puppige Insel (mit Schlenkern und Abstechern und Irrläufen überschaubare 90 km), ratschte mit Weggefährten und Einheimischen, stromerte über einen ehrwürdigen Friedhof mit Gänsehautfaktor; gab mich den Blumen Jerseys hin (vgl. Beitrag 214).

Keine einzige Zeile verfaßte ich. Tiefgang kann ich dem Leser leider nicht bieten – welchem Leser? Die Identität des Schreibenden beizubehalten bedeutet wohl, Durststrecken auszuhalten, auch ohne den Rausch Treue zu wahren zum Text. Eine frühere Freundin aus Kindertagen nannte mich bei einem spontanen, kurzen Kaffeeklatsch im Nebensatz eine Künstlerin, wogegen ich mich sträubte. Ich werde es aus Disziplinlosigkeit, Faulheit und Verzagtheit nie zur Meisterschaft bringen, nie zu Perfektion und Anerkennung, aber ich schwöre mir: es wird mich nicht davon abhalten, das zu suchen und zu leben, das in mir steckt, sich zuweilen versteckt.

Jersey war ein netter, ein schöner Urlaub, ich möchte es wertschätzen als solches; hat der Literat in mir eben einmal pausiert.

 

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