178 HAIKU

178 HAIKU

München, Juli 2021.

 

Stille – der Zikadenlärm / dringt / ein in die Felsen.

 

Während ich vom Baggersee meiner Kindheit – als die Luftmatratze noch ein Delphin und ich die Nixenprinzessin gewesen war – wegschlenderte auf die offenen Felder hinaus, die geradegebügelt in reifem Korn standen, Gerste und Weizen in sirrender Hitze, und hinspazierte zum riesigen weißen Technikungetüm, das seine Schaufeln durch den Himmel walzte, daß es die Alten Niederländer hätte erbeben lassen (deren Lieblingssujet in der Feinmalerei waren die damals hochmodernen Wassermühlen gewesen); da überfiel mich ein Gedanke, wie sie es oft tun: unerwartet, ohne Kontext, Zwischenstufe, Vor-Idee.

Ich hatte ein schmales Bändchen HAIKU gelesen, japanische Kurzgedichte, die besonderen Regularien unterworfen sind und oft aus linguistischen Gründen nicht zu übersetzen in europäische Sprachen, da das Japanische mit mehrdeutigen Bildern und Ebenen arbeitet und damit die lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten – auch deren Interpretation, die Auslegung übrigens – verfielfacht. Ich fühlte mich ein wenig an Henry James erinnert, der zwar formal recht opulent, gestelzt und verschnörkelt im Stil ist, doch gerne mit der Auslassung, der Doppelbödigkeit arbeitet, sodaß jeder Leser seinen eigenen Roman entwickelt, je nach Erfahrung und Gutdünken. Ob nun Henry James oder HAIKU: entweder es spricht zu dir oder eben nicht. Und wenn es zu dir spricht, dann sehr wahrscheinlich auf andere Weise, als vom Urheber beabsichtigt oder von anderen wahrgenommen. Während ich an der Wirklichkeit deutschen Agrarsystems vorüberflanierte, die fauchende Klimahoffnung vor Augen, Ackermonokultur und Windkraftrad, beides Gegebenheiten wohl ohne weiteren künstlerischen Freiraum, ausgerechnet da fiel mir auf, daß meine Fotografie – sei sie noch so dilettantisch, Japanisches Kunsthandwerk ist ja für seine geschliffene Perfektion berühmt – gleichermaßen ausgerichtet ist. Meine Bilder ähneln entfernt visuellen HAIKU, Einladungen, seinen eigenen Weg der Aneignung zu bestreiten, nicht immer verstanden und doch wirkend.

 

Ich dreh mich um – / der Mann, der mir entgegenkam, / vergeht im Nebel.

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