177 Kröten

177 Kröten

München, Juli 2021.

Wie hieß dieses Märchen noch, in welchem dem Mädchen die Kröten aus dem Mund fielen, wenn es etwas sagen wollte? War es die Pechmarie? Ich entsinne mich kaum mehr. Aber es kommt mir so vor, als produzierte ich statt Worten Amphibien…

Nightfall auf den Lippen, Datura Noir knapp über den Schlüsselbeinen, mahagoni getöntes Haar, ein zarter Symbolring am Zeigefinger; wie wird man stilvoll? Sie hatte ein baumwollenes Halstuch besessen, zitronengelb mit kleinen roten Punkten, ein banales Stück Stoff, wenig besonders, beinahe langweilig, und dann hatte sie es sich umgeschlungen, die vermißte Tante, es sich um die Schultern drapiert, und plötzlich war Haute Couture daraus geworden, pure Grandezza.

“Hallo Lady!” rief mir vergangene Woche ein an der Ampel wartender Obdachloser zu, eine Zahnlücke im sympathischen Lachen offenbarend. Kleingeld wollte er keines. Vielleicht – vielleicht nur – habe ich es doch von ihr gelernt, die Sache mit der Eleganz und merke es nicht.

Ich dachte mir, ich kaufe anderes Kameraequipment, um der Fotografie eine neue Richtung zu geben und damit auch meinem Leben. Ich weiß, daß ich nichts davon verstehe. Von der Technik nicht, der Optik, ganz zu schweigen von den Menschen.

Als Kind spielte ich jahrelang Robin Hood, der Bogen echt, die Pfeile imaginär. An das Leute bestehlen dachte ich dabei nie oder daran, geraubte Beute unter die Armen bringen; in meiner Traumwelt war ich einfach vogelfrei, allein und unabhängig in den Wäldern, fähig, mit Tieren zu sprechen, Held in meinem Leben, voll von Abenteuern und Wundern.

In der Realität, im Erwachsenensein vermisse ich sie: die Fantasie (nicht die meine).

Es mögen Kröten mir aus dem Mund fallen statt der Goldstücke, aber lieber Kröten als Lügen. Haltung, das hat mich die Tante gelehrt mit ihrem gelb-roten Baumwollcarrée, meine Tante und Robin Hood.

Und natürlich – was erwähne ich es – hat sie mich eingeholt, die Vernunft, und ich kein anderes Kameraequipment gekauft, weil man damit weder der Fotografie, noch seinem Leben eine neue Richtung geben kann. Ludovico Einaudis Limbo tropft mir quecksilbern in die Seele. Ein Hoch auf die Kröten! Ich mag ihr fantasievolles Spiel.

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