92, Teil I: Begeisterung steckt mich an

92, Teil I: Begeisterung steckt mich an

Norwegen, Tromsø, März 2017.

Ich halte mich nördlich des Polarkreises auf. Ich!!

Mein regelmäßiger Reisegefährte Oliver zieht mich noch immer damit auf, daß ich auf Soqotra im nicht klimatisierten, glutheißen Jeep bei Außentemperaturen von weit über 40 Grad Celsius häufiger eine Gänsehaut bekommen hatte, weil es mich im durch die geöffneten Wagenfenster hineinstreifenden Fahrtwind fröstelte. Auf einer anderen Tour durch Nepal weinte ich mir während des einwöchigen Trekkings jede Nacht bitterlich die Augen aus, weil ich meine Windbrecher-Jacke daheim im Hausflur vergessen hatte und somit ziemlich ungeschützt auf bis zu 4300 Metern Höhe bei verspätetem Wintereinbruch in einem zerlöcherten, 25 Jahre alten Schlafsack auszuharren hatte, als einzige Wärmequelle eine metallene Sigg-Trinkflasche, in die ich mir auf dem Lagerfeuer erhitzten Schnee hatte füllen lassen (mittlerweile besitze ich sowohl einen Hightech-Mantel als auch einen Profi-Schlafsack mit einem Komfortbereich von Minus fünfzehn Grad Celsius, aus Schaden wird man bekanntlich früher oder später – ich eher später – klug). Wenn es mich nicht an die See drängte (übrigens fror ich 2010 in Sharm el-Sheikh nach einer Stunde Schnorcheln sogar im 27 Grad warmen Roten Meer), hatte ich bisher überwiegend die Wüstengebiete der Arabischen Halbinsel und Lateinamerikas oder (sub)tropische Gefilde aufgesucht und sogar allzu hohe Gipfel des Gletschereises bzw. der unwirtlichen Witterung wegen tunlichst gemieden.

Ilka strahlte mich mit ihrem hübschen Gesicht an, als sie mir in einem gemütlichen Münchner Café mit angeschlossener Rösterei von ihrer Idee berichtete. Ilka zählt nicht unbedingt zu den Weltenbummlern oder Abenteuerhungrigen oder Vielreisenden, sie genießt neben Kultur eher die lokale Atmosphäre und läßt es sich gemütlich-flanierend gut gehen, gerne auch Wellnessangebote in Anspruch nehmend, konträr also zu den meisten meiner Wünsche und Ziele. Jetzt aber hatte sie mich gepackt: sie wollte ihren anstehenden 30. Geburtstag mit einem Kurztripp nach Nordnorwegen krönen, um sich dort das Polarlichtspektakel anzuschauen und mit den Schlittenhunden auszufahren. Yeah! Am meisten besticht mich ihre Begeisterung, mit der sie von ihrem Vorhaben schwärmt; außer mir findet sie niemanden, der mitmöchte.

Vom Flugzeugfenster aus blitzten uns Schneefelder entgegen. „Oh Gott!“ rief Ilka leicht entsetzt immer wieder aus, erst jetzt wirklich begreifend, daß es keinen sonnengeküßten Urlaubsstrand geben würde, keinen heißblütigen, rassigen Südländer, kein Dolce Vita oder Savoir Vivre; der Mann auf dem dritten Platz der Maschine neben uns hob bereits mißbilligend die Braue. Doch kam sie dann als gelegentliche Skifahrerin mit der Kälte insgesamt besser zurecht als ich. In ihrem neongrünen Thermoanzug machte sie eine formidable Figur, die dicke Pudelmütze verlieh ihr einen niedlichen Touch (ich kenne die superschlanke Ilka sonst nur topgestylt in eleganter Klamotte mit aufgeföhntem, ordentlich frisierten Haar).

Wir stapften durch scheinbar endlose, grau-weiße Landschaften, die Luft selbst fein bepudert, die Nadelbäume wie Broschen auf Leinenzwirn stakend, filigrane, einfühlsame Tuschearbeiten japanischer Meister. Der Geruch von Schnee war allgegenwärtig, sein Knirschen unter unseren Schritten, wenn wir nicht bis zum Knie einsanken darin. Eine Schar Krähen zog melancholisch ihre Kreise, in der Ferne sahen wir das bleifarbene Wasser des Fjordes. Ich hätte weitergehen können, immer weiter, der Unaufgeregtheit folgend, die über diesem Flecken Erde lag, aber Ilka (das meine ich freundlich-neutral) ist keine große Wanderin, sodaß wir bald kehrtmachten, zurück zum ziegelrot gefaßten Holzhaus mit Saunazuber, den sie fröhlich summend aufsuchte, während ich im Zimmer schreibend die tanzenden Flocken beobachtete, wie sie Himmel und Gewässer miteinander verbanden. Kurz sann ich nach über unser Pech, keine Polarlichter zu erleben (es herrschte eine massive, hartnäckige Wolkenfront vor), so wie es auf den Azoren zum „Blauwal-Camp“ wohl aufgrund des Dauerregens so gut wie keine Wale zu sichten gegeben hatte (ein paar wenige Delphine, zwei oder drei Pottwale aus der Ferne, der eine oder andere Blas, das war es dann schon). Da ich aber eine erfahrene, realistische Naturgängerin bin (wie oft und exakt prognostizierbar entsteht zum Beispiel in Deutschland ein Regenbogen?), hielt meine Enttäuschung sich in Grenzen: ich erzwinge grundsätzlich nichts, fordere, verlange nicht, sondern lade ein und warte ab und bleibe wach, offen und neugierig, das ist das Geheimnis.

 

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