79, Teil III: Sturzregen

79, Teil III: Sturzregen

Südamerika, Mai bis Juli 2009.

An diesem Tage würde ich etwa dreißig Kilometer marschieren. Ich stand vor den Toren des Podocarpus Nationalparkes unweit von Loja. Der Weg war breit, stieg leicht an. Zunächst noch umgaben mich Viehweiden mit äsenden schwarz-weißen Kühen. Rasch kam man höher, die milde Luft wurde frischer. Man hatte eine phantastische Sicht auf die Berge und Täler ringsum, bewaldet und begrünt – ein ungewohntes Bild für mich, die ich seit schierer Ewigkeit nur braune oder graue Hochgebirge, sandige Wüstenstriche oder aber monotone Küstenplantagen wie Zuckerrohrfelder zu Gesicht bekommen hatte. Pflanzen! War es denn die Möglichkeit… Ich hatte Peru verlassen und war nach Ecuador weitergefahren.

Den Äckern folgte niedriges Gesträuch, Farne, vereinzelt Orchideen mit unscheinbaren Blüten, Steingewächse. Soviel verschiedenes Leben auf einem Fleck! Dies wirklich konnte nur der Ort sein, den Alexander von Humboldt einst den Garten Ecuadors getauft hatte. Schüchterner Sonnenschein wechselte sich mit leichtem Regen ab. Ich hatte meine Kapuze hochgezogen, schützte vorsorglich meine kleine Kamera (eine Casio Exilim). Je höher ich stieg, desto schneller wandelte sich das Aussehen der Gegend. Sie wurde grüner und feuchter. An Wasserfällen gelangte man vorbei, Mammutblätter demonstrierten ihre Größe, klammer Nebel stieg auf, die Luft wurde grau. Ich passierte fremdartige Bäume, vollbehangen mit Epyphten. Es regnete nun ohne Unterlaß. Ich fror, doch vergaß ich es über mein Staunen hinweg. Nach nur sieben Kilometern hatte ich den Bergregenwald erreicht…

Wohl erinnerte mich die Szenerie an die Gewächshäuser des Münchner Botanischen Gartens (andere Vergleiche, abgesehen von Dokumentationen, konnte ich ja noch nicht heranziehen, war es schließlich meine erste Reise fernab der Heimat), und gleichzeitig war alles anders, erhabener, authentischer. Die Baumstämme waren überzogen von Moosen und Flechten in extraterrestrischer Form, Orange und Weiß und Grün leuchteten sie ins trübe, milchige Licht hinein, manchmal Pilzen ähnelnd. Kleine Rinnsäle kamen mir den Weg entgegen, doch stieg ich unbeirrt höher. Ich entdeckte einen Trogon in einem der Wipfel über mir; wir verharrten Minuten in gegenseitigem Studium, ehe er sich entschloß, davonzufliegen.

Das mitunter erhabenste Erlebnis war das der Stille: es war mit Fug und Recht der ruhigste Tag meines bisherigen Lebens. Außer meinen Tritten auf dem Kiesboden und dem Platschen des Regens auf dem Blätterdach bzw. auf meine Jacke war nichts auszumachen, kein einziges Geräusch. Kein Flugzeugdröhnen, kein Tierlaut, nicht einmal eine Vogelstimme. Der Wald schwieg. Der Wald war wundervoll. Und in eben dieser Sekunde gehörte er mir ganz allein.

Der Kiesweg verjüngte sich, auf matschigen engen Pfaden kletterte man weiter in die Höhe – nun gab es nur mehr steile Stufen aus rutschigem Wurzelgeflecht und losem Gestein. Die Bäume wurden seltener, Gesträuch löste sie ab, keine Bromelien und Farne wuchsen mehr, stattdessen – ja! Stattdessen auf einmal eine Heidelandschaft, die Büsche kniehoch mit ungewöhnlich großen Erikablüten, eine fast so groß wie mein kleiner Finger… Alles hier war weiß und rot und grün, herrlich anzukucken, wie in eine meditative Andacht versunken stand ich dort, lauschte in die Stille hinein, spürte meinen Atem. Ich sah die Schemen der umliegenden Berge, sah die urige Landschaft mich locken. Ich wollte weiter, wollte auf die ausgeschilderte Plattform, doch dann passierte es: der Himmel öffnete seine Schleusen, der Regen kannte keinen Halt mehr. Binnen einer Minute war ich eingehüllt in undurchdringlichen weißen Nebel.

„Zurück!“ rief ich mir selbst zu. „Los, schnell!“

Wer es nicht selbst erlebt hat, wird es nicht glauben, innerhalb der zweiten Minute nach dem Sturzregen waren die Rinnsäle des Pfades zu kleinen Bächen herangeschwollen. Bis auf die Unterwäsche durchnäßt machte ich mich leicht panisch auf den Rückweg. Der Schlamm spritzte mir den Rücken hinauf, ich geriet wiederholt ins Rutschen, krallte mich an den schmalen Bäumchen fest. Die Flechten und Moose waren samtig weich, wie in ein Kissen langte man.

„Und wenn ich aus Versehen in eine Schlange greife?“ fragte ich mich. „Unsinn!“ schalt ich mich gleich darauf.

Ich trug kein Mobiltelefon bei mir. Ich hatte niemandem gesagt, wohin ich wollte. Das sind die Momente, in welchen einem der Freiheitsdrang zur Probe wird.

„Puh, geschafft!“ schnaufte ich erleichtert, als ich endlich den sicheren Kiesweg unter den Füßen hatte. Just in diesem Augenblick ließ der Regenbruch nach und machte sich nur noch als sanftes Streicheln bemerkbar.

„Typisch!“ dachte ich lakonisch. Mir standen noch fünfzehn Kilometer Rückweg in kalt am Körper klebenden Klamotten und schmatzenden Bergschuhen bevor. Der Rezeptionist meines Hotels sollte später gleich beide Augenbrauen lüpfen, wenn ich triefend die Lobby betreten würde.

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