74, Teil VII: Respekt

74, Teil VII: Respekt

Oman, Februar 2011.

Der Flug der Mauersegler wirkte tief auf mich: offensichtlich bereitete es ihnen Freude, die Thermik auszunützen für ihre akrobatischen Schaustücke. Pfeilschnell ließen sie sich die Kalkfelsen hinabfallen, um kurz vor dem Aufprall auf den Boden abzudrehen und nach oben zu gleiten. Pirouetten zeigten sie, Schrauben, gefährliche Wendemanöver. Sie schienen die Zeit oder die Schwerkraft (oder beides) einfrieren zu können, wenn sie viele Sekunden lang im Nichts verharrten. Anderen Lebewesen reine, absichtslose Freude abzusprechen, ist eine typisch menschliche Haltung. Hennig, mit dem ich darüber diskutiert hatte, zuckte schließlich mit den Schultern.

Die Bienenkorbgräber entwuchsen dem Berg wie Pflanzen der Erde. Ihre Jahrtausende alte Aura erzählte von der Gemeinsamkeit aller Menschen und Kulturen bis zu dem Punkt, da sie Bewußtsein fanden und Religion erschufen. Die Stätte war nicht versperrt, nicht zugepflastert mit Asphalt, Kiosken, Touristenansammlungen. Sie war einfach da, unverfälscht und voll majestätischer, ewiger Würde. Einige der Mitreisenden behandelten die Hausteinruinen wie Miniaturgebirge und kraxelten auf ihnen herum als seien sie Kinder auf Klettergerüsten und Holzburgen. Sprachlos vor Empörung, fassungslos angesichts dieser Respektlosigkeit, merkte ich den Ärger aufkochen in mir, vermischt mit Verzweiflung, Enttäuschung. Dies war heiliger Boden, ein Ort, wo die Toten geehrt und der Unendlichkeit anheim gegeben worden waren, von der Sonne jeden Morgen aufs neue angestrahlt (alle Bienenkorbgräber richten den Zugang nach Osten hin aus) und in Erinnerung gehalten… Es war ein magischer Ort, die Gräber, die Schönheit der Gesteinsformationen und -farben der umliegenden Landschaft, die Wechselwirkung, der Zusammenklang mit den Bergketten im Hintergrund. Wie, wie um alles in der Welt, konnte man das nicht fühlen? Und wie arm mußte ein Leben sein ohne eine Empfindung von Ehrfurcht und Demut…

Wir warteten im Wagen vor dem Geschäft auf die mit Falafel und Grillgemüse belegten Fladenbrote, die wir telefonisch vorbestellt hatten. Ein improvisiert wirkender Händler hatte seine Ware auf einem Tuch am Boden ausgebreitet: ein paar Fische, darunter Maline und Haie. Ich beobachtete einen alten Mann. Gebückt und langsam zog er durch die Gasse, pausierend, verschnaufend; es war mir, als würde er auf unseren Land Cruiser zustreben, langsam, unvorstellbar langsam, eine weiße Dishdasha tragend und ein braun-türkises Tuch turbanartig über den Kopf geschlungen. An seinem Kragen baumelte eine Stoffquaste, wohl getränkt mit dem Duft vom allseits geschätzten Rosenwasser oder dem familieneigenen, streng gehüteten Parfum, wie es üblich ist im Oman. Langsam. Allah schuf die Zeit. Und er schuf sie in Fülle. Und so endlich erreichte der alte Mann uns tatsächlich, klopfte mit seiner knochigen Faust sachte an die Fensterscheibe der Fahrerseite.

“Was will der denn?” murmelte Patrick, während er die Kurbel drehte. Alle hatten sein “Yes, please?” bereits im Ohr, doch kam Patrick nicht dazu, es zu verlautbaren.

Das faltige, lederne Gesicht des Mannes war sonnengebräunt, seine kleine schwarzen Augen funkelten lebhaft, und der Rücken blieb auch im Stehen krumm, als er sagte: “Salam aleikum.” Grüß Gott. (bzw. wörtlich: Friede sei mit euch.) Noch ehe Patrick oder einer der anderen Insassen den arabischen Gruß erwidern konnte, hatte der Alte sich wieder abgewandt und seinen unbekannten Weg in der beschrieben gemächlichen Manier fortgesetzt.

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