60, Teil II: Armut

60, Teil II: Armut

Äthiopien, Januar 2019.

Um halb drei Uhr morgens wurden wir geweckt – ich hatte gar nicht erst zu Morpheus gelangen können und war heilfroh, mich endlich erheben und den Trek angehen zu dürfen. Eine Stunde später begannen wir unser Tagespensum in fast völliger nächtlicher Bläue, die nichts preisgab als unsere klobig-ledernen Schuhe auf dem steinigen Weg im gedimmten Stirnlampenhauch (um Batterieleistung zu sparen). Selten in meinem Leben war ich derart müde gewesen, nicht körperlich von den Muskeln her oder aus erschöpfter Atmung heraus, sondern weil die Augen gemein und unbarmherzig brannten; ich schleppte mich voran, den Berg hinauf, Schritt für Schritt, torkelnd, stolpernd, wie besoffen. Mehrfach glitt ich mitten in der Bewegung in den Sekundenschlaf, sodaß mich der heftige Ruck eines Strauchelns blitzartig wieder aufwachen ließ. Eine Mitwanderin stand vor der gleichen Schwierigkeit, doch stürzte sie heftig, benommen am Boden liegen bleibend wie zusammengebrochen, frustriert, entkräftet. Sie war physisch stark, eine Ultramarathonläuferin (die es auf bis zu 14 Stunden-Rennen brachte), nun bezwungen von Höhe, Schlafmangel und einer argen Erkältung. Sie rappelte sich auf, sich weitertreibend.

Am Gipfel des Ras Deshen trafen wir genau sieben Leute an, drei davon Scouts mit Maschinengewehren, die restlichen vier Weiße wie wir. Darunter: Leo. Er hangelte sich gerade abseits an irgendeiner Steilwand entlang. Die anderen drei waren eine Gruppe von Freunden. Einer davon, ein blonder Hühne, prahlte kurz nach unserer verschwitzten Ankunft mit absolvierten Trail Running – Rekorden und der Besteigung des Everest, als interessierte das im Angesicht von ca. 50 Viertausendern, die um uns verstreut in den Himmel ragten. Er war aufgekratzt und euphorisch und fragte uns, ob wir ein Problem mit nackten Männern hätten. – Hä?? – Ja, er würde sich gleich ausziehen für das Gipfelfoto, das praktiziere er stets auf diese Weise, es sei sein festes Ritual. Ich ergriff schleunigst die Flucht auf die andere Seite des kleinen abgestuften Plateaus. Von mir gibt es kaum Fotos, weder „Leistungsdokumentationen“, noch Selfies oder gar luftige Akte, höchstens seltene private Art Pieces oder Familienaufnahmen fürs klassische Album. Jedenfalls überlegte ich noch, Mr. Superboy-Nackedei mitzuteilen, daß er in gewissen Ländern ohne langes Fackeln für Exhibition erschossen würde oder gesteinigt oder enthauptet, entschied mich dann aber, ganz ohne jegliches schlechtes Gewissen, es ihn selbst herausfinden zu lassen.

Ich habe schon viel Armut gesehen, gerade auch während meiner ersten Äthiopienreise 2014. Wer nicht die Dörfer betreten hat, auf rohe Erde gestampft, aus Ästen und Kuhdung errichtet, strohgedeckt oder mit Wellblech gegen Regen geschützt, wer nicht die zerzausten herumlaufenden Hühner und Küken gesehen hat, die Ziegen und Kühe mitten im Ort, wer nicht eines der Häuser von innen erfahren konnte, die keine gezimmerten Möbel aufweisen, sondern Podeste und Bänke aus festem Lehm, mit staubigen Schaffellen bedeckt, die Feuer- und Kochstelle in direkter Nähe zum mit einem schmutzigen Tuch abgegrenzten Plumpsklo, Fenster und Türen offene Rechtecke ohne Scheibe oder Vorhang, alles freilich bar jeder elektrischer Leitung oder fließendem Wassers, wer also das nicht persönlich vor Ort erlebt hat, dem wird das Wort „Armut“ wohl irgendwie doch abstrakt bleiben; die Menschen waren dünn bis dürr, vorzeitig gealtert, gewandet in zerschlissene, zerlöcherte gebrauchte Textilien – Löcher von zwanzig, dreißig Zentimetern Länge und mehr. Die Kinder liefen mit schwarz verschmierten Rotznasen herum, die Hände rissig-verbraucht, dreckig-klebrig und oft eiskalt, doch brachte man es nicht über das Herz, sie nicht zu ergreifen, wenn sie sich einem zur Begrüßung entgegenreckten; den Gedanken an HIV und Hepatitis C hatte man immer irgendwie im Kopf. Man wurde sogar angebettelt um die leeren Plastikflaschen, aus denen wir unser sauberes Mineralwasser tranken. Alles, wirklich alles, konnte gebraucht werden und wurde dankbar angenommen; manche Menschen, diejenigen, die es am schlechtesten getroffen hatte, besaßen nicht einmal die billigen Plastikschuhe, die Badelatschen ähnelten, 50 Birr das Paar, umgerechnet 1,70 €, um damit über das scharfkantige Geröll des Untergrundes zu steigen. Wo Menschen darben, kann keine Rücksicht genommen werden auf die Tiere, schwer beladene, mit Stöcken geschlagene Esel, abgemagerte Gäule und Kühe. Meine drei Mitreisenden weinten während dieser Tour, nie zuvor waren sie so dicht dran gewesen an Leid und Elend eines Existenzminimums. Am härtesten war es für uns, wenn wir, stets vom Organisator während des Trekkings gut verpflegt und gemästet wie kleine Spanferkel, essen „mußten“ vor einer Phalanx stummer, mit großen Augen uns beobachtender, magerer, ausgezehrter Menschen. Wir befanden uns fast nie allein, es gab immer Zuschauer, manchmal vereinzelt, meist zu Dutzenden, morgens, mittags, abends. Wir ließen so viel wie möglich übrig an Speisen, doch reichten die Restmahlzeiten gerade für unsere Begleitmannschaft, Guide, Scout, Koch, Hilfskoch, Campmanager, drei Muli-Treiber, für die Dörfler und Bauern unterwegs blieb nichts übrig. Sie starrten uns auf die kauenden Backen.

 

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