35, Teil I: Machen Sie hundert Sit Ups!
München, Oktober 2018.
Ich kann mich nicht erinnern, auf welche Weise ich dieser Hunderasse zum ersten Mal begegnete; jedenfalls brannte im Alter von 21 Jahren in mir der sehnlichste Wunsch nach einem solchen Gefährten: grazil, muskulös, liebevolles Gesicht, bewegungsfreudig, freiheitssuchend. Ich malte mir in den buntesten Farben aus, wie mir ein knuffiger Welpe überreicht würde zum nächsten Geburtstag, das Fell gestromt, erkor den Hund zu einem Nebenprotagonisten eines Romans (wo er Aristoteles hieß und nie den PC verlassen sollen würde, wie die meisten Figuren meiner Texte). Es wurde dann doch ein Ikea Lehnstuhl, mit Dschungelprint, immerhnin. Ich verabschiedete mich von dem Gedanken, von der Verantwortung, angesichts einer Zukunft, von der ich nicht wußte, ob sie mir die Zeit lassen würde, das Wesen adäquat und umfassend zu umsorgen. Ich vergaß die Sache sogar; sie lagerte ungestört unter einem dicken Sediment unterschiedlichster Erlebnisse und Gegebenheiten, bedeckt von Bewerbungen, Praktika, Jobs, Tod, Zweifel und Reisen, Reisen, Reisen. Im Globetrotter dann kürzlich auf der Suche nach einer neuen geeigneten Jacke für Abenteuer aller Art sprang es mir unverwandt rot-weiß ins Herz hinein. Die Rasse (um einen Mode-Effekt zu vermeiden, nenne ich sie nicht namentlich) glühte mir mit diesem wachen, intelligenten, fast übersinnlichen Blick in die tiefsten Winkel meiner Seele, es klickte, und es war ausnahmsweise nicht meine Kamera, die das Geräusch erzeugte, sondern eine spürbare Konnektivität zwischen Mensch und Tier (die sich bei mir oft einstellt, jedoch nicht immer und schon gar nicht erzwungenermaßen; ich sende Einladungen aus, abwartend, was geschieht, wie sie gefällt, vgl. u.a. Eintrag 30 und 32). Ich durfte den Hundebuben streicheln, ungewöhnlich, da die Rasse sich Fremden gegenüber extrem reserviert verhält. Er suchte meine Nähe, legte den Kopf schwer und vertrauensvoll in meine Hände. Zuhause googelte ich nach Züchtern in meiner Nähe, es war tatsächlich ein Wurf für den kommenden Frühling geplant. Aufgeregt kontaktierte ich die zuständige Dame.
München, November 2017.
Noch Jahre später sagte man mir, daß ich zum Inventar gehört habe. Seit ich bei einer Ernährungs- und Lebenswandelumstellung im späten Jugendalter etwa dreißig Kilo Gewicht verloren hatte, war ich quasi imprägniert mit dem Verlangen nach Bewegung. Während einer besonders intensiven Phase der Sportlust trainierte ich fünf Tage die Woche täglich drei bis fünf Stunden, im Wald joggend, an den Geräten des Fitness Studios, Berg wandernd, Hanteln lüftend, mit der eigenen Körperschwerkraft am TRX arbeitend, strampelnd am Radergometer oder Crosstrainer.
Ich war gerade von einem Trekking zurückgekehrt aus Irland, wo wir den Wicklow Way mit Umwegen gegangen waren, 180 Kilometer in zehn Tagen. Der Schmerz lähmte mich. Ich atmete flach, um mich ja nicht zu rühren, um nicht diesen Krampf auszulösen links unten im Rücken. Draußen schien heiter und lockend die Herbstsonne über dem Garten, mild und golden. Ich schwitzte, stank, fühlte mich miserabel. Niesen, Husten, die kleinste Geste waren mir ein Graus, weil sie die Krämpfe auslösten, die Stromschläge aus aufquellender, messerscharfer Pein, die mich zermürbte. Ich konnte nicht alleine aufstehen, nicht sitzen, keinen Arm heben, nichts, war steif gefroren in heißer Qual. Ohne Hilfe hätte ich es nicht zum Arzt geschafft. Ein grober Mann, der sich mit seinem Gewicht auf mich warf, als ich bäuchlings auf der Untersuchungsliege flackte, der gnädigerweise ein Röntgenbild verordnete, der abschätzig nickte, als ich auf die Frage nach dem ausgeübten Beruf mit Sekretärin antwortete (bloß um die Sache zu vereinfachen und weil ich kaum sprechen konnte), der mich arrogant anschaute und sagte: „Wohl ein Bandscheibenvorfall. Das kommt vom vielen Sitzen. Geh´n Sie mal spazieren!“ Ich starrte ihn an. Tränen strömten aus meinen Augen, Tränen der blinden Wut. Wohlgemerkt habe ich nicht geweint während der Beerdigung meiner Schwester damals. Wenn ich es gekonnt hätte, ich schwöre es, ich hätte diesen Mann kräftig geohrfeigt. Im Verlauf der nächsten Monate konsultierte ich weitere vier Ärzte; ich erhielt Schmerztabletten (die ich nicht nahm) und die Ratschläge, schwimmen zu gehen, den Beckenboden zu stärken und unbedingt zur Festigung der Muskulatur Sport zu treiben. Auf meine Bitte nach Physiotherapie hieß es: „Machen Sie regelmäßig hundert Sit Ups!“