33, Teil I: Sprechende Landschaft
Island, August 2018.
Hi. This is Solitude.
Kann eine Landschaft sprechen? Ich hörte die Worte ganz klar in meinem Kopf, wie sie meinen gesamten Körper durchdrangen, während ich tief hinab blickte in die karge, flußdurchschlängelnde Schlucht. Ich stand auf einer Steilkante, Felsfluchten stürzten schwindelerregend nach unten weg, und ringsum nichts als Weite, ein Wind, der an mir rüttelte und zerrte, eine Kälte, die schnappend davon kündete, daß man aus Fleisch und Blut und äußerst lebendig war. This is Solitude, summte es rhythmisch. Wieso in Englisch? Ich lächelte, denn ich hatte darauf gewartet, daß die Blende aufginge, sich weit öffnete, um im Fotojargon zu bleiben, und nicht möglichst viel Licht durch die Linsen fallen ließe, sondern eine Botschaft, Resonanz, so als führe ein Musiker mit den Fingern über die Ränder flüssigkeitsgefüllter Gläser, ein hohes, zartes Tönen, das anzuschwellen vermag und komplexe Melodien hervorbringen. Hinter der nächsten Biegung gleich agierten versteckt die Mitreisenden, werkelten eifrig an ihren Aufnahmen, Stative aufbauend, Nylonhocker ausklappend, die Vollformatkamera zückend; hier aber war ich allein. Ich gehörte der Landschaft, befand mich in ihrem Besitz. Kleine, spitze Regentropfen prasselten mir ins Gesicht. Die Heide winkte tupfenweise in blaustichigem Violett, intensiv und sinnlich. Es zog mich weiter, den Pfad entlang, der in über hundert Metern Höhe dem mäandernden Fluß folgte, ich mußte die Füße fest in den Boden bohren, um dem Impuls nicht nachzugeben, einfach loszulaufen, weg, voran: ich trug die Sehnsucht in den Beinen, während der Wind mir Versprechungen von Freiheit ins Ohr wisperte, kaum zu verstehen inmitten dieses umfassenden, Sphären auskleidenden This is Solitude.
Die Ebene war schwarz. Wie behandeltes, matt poliertes Edelstahl lag sie da, erstaunlich warm in der Anmutung, ein heimeliges Höhlen-Samt. Schmal am Horizont eine Schichtung unterschiedlicher Linien in Grau-, Blau-, Anthrazit-Nuancen, Berge im morgendlichen Licht, bedeckt von endlosen Wolkenbänken. Ohne grausam packende Luft, ohne Schnee, Stürme, Erbarmungslosigkeit, ohne jegliche Gewalt schälten sich sanft zart geschwungene, abgeschmirgelte Formen aus dem Grund, nicht rau und schroff und abweisend, sondern fließend, ätherisch-leicht. Ich war weit genug hinausspaziert in die Ebene, um mir einreden zu können, ich sei der einzige Mensch dort. Ich stellte mir ein in die dunkle Sandwüste positioniertes, verlassenes Klavier vor, nicht das prachtvoll geschnitzte eicherne Gründerzeitpiano im Hause meiner Tante, auf welchem Vasen, Nippes, Bilderrahmen dekorativ davon kündeten, daß sich niemand mehr daran setzte, sondern das unauffällige, zweckmäßige Instrument, gepfercht in einen ungünstigen Winkel des Hotel-Frühstücksraumes, an dem wir unverhofft einer improvisierten Stückemischung lauschen durften. Lieder, die einen wegschafften vom Geruch nach gebratenem Speck, gekochten Eiern, Automatenkaffee, von Gesprächen über Steuern, Mieten, Wahlen hinein in die offene, schwarze Stille. Plötzlich riß etwas auf über mir, Sonnenlicht fiel gebrochen auf meinen Kopf, als küßte man mir den Scheitel und fragte: „Good morning, my Dear, how are You today?“ (Das hatte der Gatte Margaret Thatchers einmal hutlüftend zu einer Bekannten gesagt, als sie ihn bei einem zufälligen Aufeinandertreffen in Londons frühen Morgenstraßen namentlich grüßte). Meine Schritte federten wie auf weichem Waldboden, auf elastischem Torf, und doch knirschte es, als durchquere man eine frisch verschneite Gegend. Ich war geduldet und behütet, die Ebene jetzt in dieser Sekunde eine Schutzmantelmadonna. Das Klavier im Vulkanschwarz verschwand nach und nach verblassend, wich einem vorübergaloppierendem Pferd, kein Isländer, sondern ein Araber, sehnig und muskulös, ein Schimmel ohne Prinz, ein kitschiges Bild und doch schön, die Mähne ein wild flackerndes Segel, die Nüstern gebläht. Die Hufe trappelten gedämpft, winzige, poröse Lavasteinchen aufspritzend.
Als der umgebaute, geländetaugliche Bus um die Kurve bog, glitzerte es tausendfach im gefiederten Neongrün des Schachtelhalms. Zwergweiden und Moose bildeten einen weichen Vegeationsteppich zwischen urtümlich geformtem, Flechten versehrten Gestein, das jedem Zen-Garten zur Ehre gereicht hätte; dort hingestreut ein paar rot-grüne Würfel, Fischerhütten. Weise ruhte der fjordartige See zwischen chlorophyllenen Hügelufern, als Hintergrundfolie in der Ferne Berge im Frostkleid – stets neuerliche Berge, Erhebungen, Einschnitte, unendliche Luftschichten, Island gebietet keinen Einhalt. Ich tat es den anderen nach – die stets erstaunlich schnell aus dem Gefährt flitzten, um den besten Patz nicht zu verpassen, das beste Foto, ein bestes Was Immer -, stieg auf einen Felsen, wo schlagartig eine alte, greifbare Stille mich erfaßte, innerlich, äußerlich, haptisch wahrnehmbar, akustisch, eine Stille, wie sie mir in Grönland begegnet war, faszinierend, omnipräsent. Gleich einem geheimen Heilkräuterbalsam legte sie sich tröstend auf die Seele, sank tief und freundlich ins Herz. Es piepste dezent, ein Schwarm kleiner Vögel flog auf, um sofort wieder mit den Gräsern zu verschmelzen, ein rasches Blinken heller Flügel. Gelächter, Fetzen banaler Gespräche trafen mich wie Fausthiebe, penetrant störend, alles andere – etwa das berührende Geschnatter der Singschwäne – überschreiend. Messerstiche waren mir die aufgekratzten Konversationen: Könnt ihr das denn nicht spüren?, dachte ich zürnend. Könnt ihr die uralte, knisternde Gegenwart nicht ehren, respektieren, in euch aufsaugen? Ich machte nichts als Atmen. Ein Wassertropfen zitterte im Halm neben mir. Obwohl seine Vergänglichkeit inhärent war, schien mir der Tropfen zeitlos. Ewig. Wir waren der Tropfen, wir alle, und der Tropfen war wir. Tränen tanzten in meinen Augen.