24, Teil II: Ein Mensch am Boden
Äthiopien, Oktober 2014.
Auch bei Tageslicht spürte ich die Außergewöhnlichkeit Harars, eine quirlige afrikanische Stadt, faszinierend fremd, schockierend arm, erfindungsreich, wuselig, nicht aggressiv, bunt. Ich entdeckte Wellblech gedeckte Buden, vollgestopft mit Alteisen, Schrauben, Nägeln, Tuben, Dosen, Werkzeugen, Pinseln, Rost starrend, verbogen, Dinge, die man bei uns entsorgt und dort feilbietet, weil sie gebraucht werden, weil sie sich noch zum Gebrauch eignen, weil Improvisation regiert, nicht reichtümliche, naserümpfende Perfektion. Ein Lehrstück der Nachhaltigkeit, der Kreativiät, ein neuer Maßstab dessen, was taugt und von Wert ist. Ich möchte Armut nicht idealisieren oder romantisieren, mir steht der Gestank von Urin noch deutlich in der Nase (weil es keine öffentlichen Toiletten gibt), sehe noch die gehäuteten Rinderhaxen bei den Metzgern hängen, wahlweise mit schwirrenden Fliegen überzogen oder ohne solche zu erwerben (letztere Fleischteile sind Formaldehyd behandelt), werde mich kaum an einen übergewichtigen Menschen erinnern und oft an jene auf dem Boden zusammengekrümmte Person zurückdenken, deren knochige, faltige Beine aus einer gewebten Decke ragten, ein Mensch, über den achtlos hinweggestiegen wurde und von dem ich mir nicht sicher war, ob er eigentlich atmete. Trotzdem bewundere ich das Wenige, mit dem die Leute auskommen, auskommen müssen, und wie sich dieses Wenige zusammenaddiert, denn wenngleich viele bloß drei Orangen und etwas dürftiges Gemüse, einige Säcke Getreide, andere wiederum Plastikreiben oder Schälchen mit Gewürzen etc. vertrieben, so summierte sich die Ware zu einem üppigen, endlosen Markt, der sich die Gassen entlangzieht und nur allmählich in den Nebenästen ausdünnt und sich spät verliert wie ein gigantisches Adersystem.
Irgendwo an eine der Mauern gelehnt saß eine junge Frau in farbenfrohem Kittelkleid, den Kopf mit einem roten Tuch umschlungen. Das einzige, was sie zu verkaufen hatte, war ein Stapel aus gebündeltem Rosmarin, alle anderen Güter – getrocknete Paprika auf der einen Seite, Planen und Schüsseln auf der anderen – gehörten bereits dem Bestand der Nachbarn an. Neben dem grünen, duftenden, dörrenden Kraut saß ihr kleines Mädchen, ein Baby mit Zöpfchen, saß still und zappelte nicht, vertieft in eine Beschäftigung mit sich selbst, die sich mir nicht erschloß. Von der gleichen Trance, gedanklichen Arbeit, schien die Mutter ergriffen, die Hand hielt sie in einer Geste des Sinnens an den Mund, die Augen schweiften in unbestimmte Ferne. Es war ein Mikromosaik, das ich herausnehme aus einem zeitgenössischen, äthiopischen Bildteppich, eine Szene wie aus einem Theaterstück und doch ungekünsteltes Leben. Unberührt von Hektik und Betriebsamkeit fügten sich zwei Menschen ein in ihr Tun und stachen doch heraus, weil sie Würde und Ruhe ausstrahlten. Blitzschnell zückte ich die Kamera, ehe ich weitergeschoben wurde von der Menge, an einem Teeladen vorbei, der aus einem Tablett mit zwei ungespülten Gläsern und einem silbern glänzenden Kessel bestand, der gerade von einer Henne bedient zu werden schien – niemand sonst war zu sehen… In einem Hinterhof würde ich auf einen weiteren solchen Teestand stoßen, ein puppenhaftes Tischlein mit Schublade, worauf Tassen aus weißer Keramik samt Untertellern und Metallöffeln gedeckt sein würden und wo eine weiße, sphinxenhafte Katze wohl die Bestellung entgegennahm…