231 Haltung
München, Februar 2023/ Grönland, September 2017.
Manche Texte kleiden die Brust von innen her aus, heftig flatternd wie ein Stück Stoff im Wind, das sich in einem Geäst verwirrt und wild durch die Lüfte reißt und rüttelt. Andere kullern sanft durch den Kopf, ein einfaches Boot, das in der Schönwetterdünung strollt, Texte, die klimpern wie die gläsernen Murmeln der Kindheit. In beiden Fällen jedoch wollen sie zeitnah geschrieben sein, sonst verglimmen sie, duftende Räucherstäbchen, die sich bald verzehren und nicht wiederkehren.
Ich habe nie gut Kontakt halten können zu den Menschen, die mir über den Weg gelaufen sind im Leben, die ich gekreuzt habe auf Reisen und die mir wichtig waren. Gerade auch die flüchtigen Begegnungen über wenige Stunden, über ein paar Tage oder ein, zwei Wochen hinweg sind es aber, die mich ausfüllen, die ich nicht vergessen möchte, nicht missen. Sogar wenn eine Funkstille durch Streit oder Uneinigkeit oder Enttäuschung (auf welcher Seite immer) entstanden ist, kultiviere ich beständig und sorgfältig die Erinnerungen an gewisse Charaktere, bestimmte Sätze, an Szenen und gemeinsam verlebte Zeit, an diese eine kurze Schnittmenge unseres Seins. Bei manchen müßte ich um Verzeihung bitten, von anderen dürfte ich eine Entschuldigung erwarten; dabei ist der Zwist an sich sekundär. Übrig bleiben die Dankbarkeit, das Lächeln, das andere, das auch war. Ob diejenigen, die ich im Stich gelassen habe oder über die Maßen genervt mit meinem Verhalten oder gar bedrängt, ob die das genauso sehen, ist zu bezweifeln.
Der Beitrag soll aber gar nicht von Fehlern handeln und ungutem zwischenmenschlichen Miteinander oder von Vorwürfen, von Bedauern oder Reue, es wäre nicht die Richtung, die der Text einschlagen wollte, als er morgens hinter meiner Stirne tänzelte. Der Text ruft mich zu sich, was vielleicht wie ein inhaltlicher Bruch anmuten mag, aber ich lasse ihn frei, auf Vernunft und Form pfeifend. Er ist von der Leine, der Stromer.
Vielleicht ist mir die Welt, wie ich sie wahrnehme, eine Folge von Fotografien, und vielleicht ist sie mir deshalb so über die Maßen wichtig, die Fotografie. Es wären aber 4D-Fotografien, die singen und riechen und zu betasten sind und nach etwas schmecken… Jedenfalls vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, was ein Foto sei und wozu es diene und weshalb es mich anspringt oder eben unberührt läßt.
Manchmal schickte mir jemand eine Auswahl seiner Fotos. (- Vergib, wenn ich mich in den Details nicht ganz korrekt erinnere, der Eindruck an sich war offenbar ein bleibender! -) Da war eine Rose, eine rote, langstielige, kalt gefroren, von Raureif überzogen, die im Freien an einem ausgebauten, alten Fenster lehnte. Das Holz des Rahmens war mit blätterndem Anstrich versehen, die Scheiben intakt. Kein Lost Place, eher ein Lost Stillife. Ich mailte und fragte nach den Hintergründen und tatsächlich täuschte die sanfte Verlorenheit nicht: das Arrangement war nicht minutiös im voraus geplant gewesen, die Rose nicht eigens besorgt worden und über Nacht der Kälte überlassen, nein. Er hatte sie gefunden, auf der Straße, die gefrorene Rose, und sie hatte ihn angerührt und er aus dieser Rührung heraus Inspiration getankt zu seinem Bild, das er aus einem funktionslosen Fenster und einem funktionslosem Liebespfand zusammenstellte. Ich wundere mich, wie oft man weggeschmissene Rosen auf dem Bordstein entdeckt, zertreten von der Masse Passanten; als ich noch in München Schwabing wohnte, geschah es wöchentlich: ich würde niemals eine Rose fortwerfen! Aber ich gehöre auch gar nicht zu den Frauen, die Blumen erhalten.
Eine weitere Fotoanekdote knüpft sich nicht an ein konkretes Bild, sondern an eine Haltung: die Fotoreise 2017 durch Grönland war mir die schönste und wichtigste Tour überhaupt (dicht gefolgt von Soqotra), die Landschaft betreffend, die Erlebnisse, die drei Guides und Lehrer, die Gruppenmitglieder, den Veranstalter (der schwedische Zoom Fotoresor). Wie eine Tätowierung haftet sie mir an, liebgewonnenes Symbol. Beeindruckende Fotografen hatte der Zufall dort versammelt, Profis, Laien, Unikate, Persönlichkeiten, grundverschieden und geeint in ihrer Ausstrahlung und der Meisterschaft ihrer Werke. Ein selig glückliches norwegisches Ehepaar höheren Alters hob sich indes ein wenig ab (mich selbst nehme ich aus der Bewertung heraus): während der Fotobesprechungen abends am Beamer zeigte sich, daß sie technisch, inhaltlich und generell in keiner Hinsicht mithalten konnten mit den Ergebnissen der anderen (wir hatten zuvor Aufgaben erhalten, die wir u.a. am Russel Gletscher zu lösen gehabt hatten). Ohne gemein zu klingen: ihre Bilder waren langweilig, öde, dilettantisch, unästhetisch, unbeholfen, linkisch, fehlerhaft und umgangssprachlich grottenschlecht, sodaß die Kommentare der um Höflichkeit bemühten Gruppenmitglieder sowie der Lehrer sich bedeckt und spärlich hielten, um nicht zu verletzen (es war quasi Hopfen und Malz verloren). Der norwegische Mann ergriff das Wort für sich und seine Frau (die ihn ohnehin nur begleitete und sich nicht wirklich etwas aus Fotografie machte), er strahlte über das ganze Gesicht, als er ein Bild nach dem anderen vorführte, seine Bilder. „Schaut her!“ sagte er lachend. „Ich habe keinerlei Talent!“ Wir zuckten alle ertappt zusammen, Unbehaglichkeit mischte sich in die Stille schlechten Gewissens. „Nein, wirklich! Seid unbesorgt!“ Wieder lachte er voll aufrichtiger Fröhlichkeit. „Seht nur, wie häßlich das ist! Und das! Und das hier erst, meine Güte!“ Er schüttelte fidel den Kopf. „Aber, ach! Ich liiiieeeebe es so sehr, das Fotografieren!“ Und wir alle glucksten auf. Ja, unbestreitbar, dieser Mann liebte es, zu fotografieren, durch und durch, ungedenk des Resultates. Er liebte es, Bilder zu machen, frank und frei von jeder Bewertung, es störte ihn nicht, „nur“ ein Knipser zu sein, dem nicht einmal Schnappschüsse gelangen. Mehr noch, Neid und Scham waren ihm fremd. Er bewunderte die Kunstwerke Egevangs und Rikardsens, er gratulierte zum Output der anderen, er registrierte seinen eigenen Qualitätsabfall, dem nicht die einfachsten und elementarsten Grundregeln innewohnten, ja, ich würde sogar fast sagen, er machte die miserabelsten Fotografien, die mir je untergekommen sind – und doch trägt er sie in sich, die Freude, das Vergnügen, die Liebe zum Bild, und nie bin ich einem wahrhaftigeren Fotografen begegnet als ihm. Fünf Jahre nach unserem kurzen Zusammentreffen huldige ich ihm in einer Textminiatur, von der er nie erfahren wird. „Kuckt, wie häßlich meine Bilder sind!“ – ach, alter Herr, was warst du selbst für ein hübscher Mann mit deiner beeindruckenden, aufrichtigen Haltung… Chapeau! Ich gratuliere dir.
Der Text legt sich schlafen. Für heute genug, sagt er. Und auch ohne perfekte Form, ohne stringentes Band: ein Text, ein Schreiben.