210 Rosa Katharsis

210 Rosa Katharsis

München, August 2022.

Die Straßen hinunter, am Weiher vorbei, den Bahndamm entlang, durch Wälder und über Felder flog ich dahin, säuselnden Wind in den Ohren, die Sonnenhitze sich mit dem Schweiß der Anstrengung vermengend, während leise hinter mir der Anhänger mit dem Hund rumpelte. Auf kindische Art fühlte ich mich frei; unbeschwert und leicht. Ich hatte keine bestimmte Strecke im Kopf, entschied spontan, welcher Abzweigung ich folgen wolle, welches die nächste Ortschaft sei, und dieses Gefühl, nicht genau zu wissen, wo man sich befand, das Vergnügen, absichtslos zu wählen, einfach um unterwegs zu sein, das war mir lieb und kostbar. Bevor die Dürre zuschlug und alles zermalmte, was an Pittoreskem übrig geblieben war, boten sich mir auf solchen Touren Funkenschauer der Freude: eine Phalanx aus Ebereschenjungbäumen, über und über behangen mit heiter orangeroten Beeren, wie ein Stickbild voller Murmeln muteten sie an, genauso volksfrömmig und naiv; und davor das dichte Werk aus Gräsern, rankenden schwarzvioletten Brombeeren, wolligen Distelsamenständen, vereinzelten giftroten Strauchholunderkügelchen…. Es gab Horste aus stattlicher pfirsichblättriger Glockenblume, hell lila Tupfen im Brennesselwust; Abschnitte voller Rainfarn, selten geworden; und ganze Mauern aus Minze, blühende, schäumende, sommerfrohe Minze! Zwei bezaubernde Knöpfe, Rehnasen eines Kitzpaares, das Kopf an Kopf gekuschelt von der Böschung hinabschaute, ängstlich-skeptisch verharrend, was da vorüberzog. Stahlgraue Wolkenbänke hingen wie aufgepinnt am Himmel, große, mächtige Gebilde, die nicht aufplatzen wollten. Durch sie, einem Sieb gleich, fiel das Licht in Sprengseln, und wo es niederkam, da gleißte es vertraut golden auf: das Korn war reif. Über gemähte Wiesen, die nach frischem Heu dufteten, stakste der Storch, daß es das noch gab!

Einmal, da wurde es sehr spät, ich tauchte schon ein in die frühe Dunkelheit, die sich bereits wieder gegen einundzwanzig Uhr herabsenkte, passierte ich das allerletzte halbe dutzend uralter Buchen von weit über 200 Jahren, die die Staatsforsten haben gnädigerweise stehen lassen, Buchen, die mich sanften Riesen gleich wohlig schweigend beschirmten, als ich nämlich das flatternde Huschen bemerkte. Die beinahe comichafte, schwarze Silhouette einer Doppelparabel – eine zierliche Fledermaus – die flatternd durch die laue Luft glitt, droben am milchig-blassen Ausschnitt, verfranst und ausgezackt vom Ast- und Laubpassepartout. Eine Fledermaus? I, wo! Unzählige! Viele! Ein Schwarm aus kleinen Fledermäusen, die ihrer unsichtbaren Beute völlig lautlos hinterherjagten! Welch unvermutete Szene, welche plötzliche Überraschung, diese Fülle an Leben im zerschundenen, zerstückelten, gedemütigten Heimatforst…! Wannanders sog ich mit den Augen das Idyll diverser Bauerngärtchen auf, ebenfalls eine sich rar machende Spezies, eine wohlfeile Mischung aus Stauden, Einjährigen, Gemüse, ein geordnetes Durcheinander aus Kürbis, Lauch, Salat, Zucchini, Kartoffeln, in Reih und Glied gedeihend, aufgelockert durch dottergelbe Taguettes und rote Gladiolen, weiße und lila Astern und beeindruckende Sonnenblumen, der Inbegriff von Ländlichkeit, eine Sorte höher und opulenter und blütenreicher als die andere.

In meiner ausradierten, sinnentleerten, gespensterhaften Existenz waren mir solche Momente und Bilder Medizin. Ich wollte nie politisch sein, ich hasse es sogar. Aber sobald einen etwas zu Herzen rührt, so wird es zwangsläufig politisch. Und ich joggte und die Dürre setzte sich fort, die Glockenblumen niederringend, die Brennesseln verbrennend, die Bäume verkahlend, ich joggte und sah ihn in voller Montur mit der Sprühdose in der Hand, den Förster der “nachhaltig forstendenen Staatsforsten”, markierend auf einem Gelände, von dem es vor zwei Jahren in einer Mail hieß, es werde dort erst wieder in einer Dekade geschlagen, ich traf also ausgerechnet den Förster, der mir mitten in der Corona-Trostlosigkeit meine Heimat gestohlen hat, einen zunächst ziemlich selbstsicheren Mann, der Coaching-Floskeln und Monsanto-Manier-Hülsen von sich gab, und mir versicherte, er habe “die allerhöchsten Ansprüche” an seine Arbeit, und ich verabscheute die Arroganz des Staates, die aus ihm sprach und ich schrie ihn zwanzig, dreißig Minuten lang an und schleuderte ihm meine Argumente und meine Wut entgegen, und es passierten zwei Dinge: die Hochmütigkeit und Selbstüberzeugung dieses Mannes schrumpften zusammen auf das Niveau der Fakten – und ich wurde krank.

Die Wut, der Schmerz, die Ohnmacht der letzten 2,5 Jahre bündelten sich in einem Fieber, das alles ausmerzte. Katharsis. Neustart. Zäher, verseuchter Schlamm klärte sich, ich konnte wieder sehen, nicht weit, aber immerhin. Mit dem überfälligen Regen kam eine Frische zurück, die es in meine Seele geschafft hat, Erleichterung, Linderung bringend, ein zartes, vitalisierendes Rosa, und die ersten Blumen, die nach der Dürre endlich aufsprangen, waren alle rosa: Klee, Springkraut, Ziest. Im Beet daheim entfaltete sich allem anderen voran grau-malvenfarben ein Dreiklang aus Novalis-Köpfen, leise duftend, poetisch, die neueste Rosen-Errungenschaft. Dichten könnte man auf diese herrlichen Blüten! – Ich bin zurück… Das sage ich mir selbst, flüsternd. Die Kröte aus dem Eis ist aufgewacht, sie blinzelt sich ins Leben nach der Starre. Wohin, in welches rosa Bild, wird sie hüpfen?

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