209 Reset

209 Reset

München, August 2022.

Ciao!, das kann Hallo heißen oder Tschüß, manchmal beides zusammen, genau wie Servus, aber Ciao!, das klingt leichter. Schwarz/Weiß/Beigegelb war es an die Wand einer bröckelnden Unterführung gesprüht gewesen, mich seltsam anrührend, damals in Venedig, im November – nicht mehr fotografiert hatte ich seitdem, nicht mehr geschrieben. Kann man es bei Temperaturen von 30 Grad, bei grellster Helligkeit und anhaltender Dürre denn einen Winterschlaf nennen? Es ist, als habe sich alles, wirklich alles, aufgelöst, als sei nichts übrig stehen geblieben von mir als das Schlechte, Garstige, Verwerfliche. Ich erkannte mich nicht wieder, wer war denn das? Ich habe nie meine negativen Eigenschaften abgeleugnet, aber sie in ihrer Reinheit und in feinstem Purismus vorsichzusehen, befremdet doch. Ich lebe genug Zen, um nicht sofort abwehrenden Mechanismen zu verfallen: das da ist, ist da, ist so, verstanden, akzeptiert, was machen wir nun damit? Was tut man, wenn nichts weiterbesteht als das, was man nicht schätzt an sich und nicht will? Man wählt die kleinen Trittsteine, die erreichbaren Schritte, Yoga, Vorbilder suchen (in der Literatur, in Biographien, Reportagen), Ausharren. Wenn der Sinn abhandengekommen ist, funktioniert kein Kompass noch, einfach im Boot bleiben, heißt dann die Devise, egal wie, egal warum. Atmen, Tage absolvieren, Wochen, Monate. Erstarrung, Paralyse wird zur letzten Rettung; Kröten überdauern so im Eis. Irgendwann im Verlauf der vergangenen beiden Wochen klopfte es an, ein kleines Fäustchen, das von innen her an ein Fenster pocht, zaghaft, schüchtern, das Klopfen kenne ich, es ist das Schreiben, nur daß es normalerweise kräftig hämmert, fordernd, vital, leidenschaftlich. Ist es also noch da, das Schreiben, dachte ich mir Schultern zuckend im Geiste, während der Fahrwind mir den Zopf in den Nacken schleuderte und ich mit dem Hund im Hänger über die sommerglutheißen Dörfer radelte.

1 + 1 = 3, lautet die Gleichung unserer Gesellschaft. Ich war nie begabt gewesen in Mathematik, aber daß 1 + 1 = 2 ist, daran hatte ich felsenfest geglaubt, an diese Wahrheit, unumstößlich, obwohl ich sie nicht erklären konnte, ich war ja nicht Einstein. Von heute auf morgen hat man sich geeinigt: 1 + 1 = 3, und wer dies bestreitet oder alte Wahrheiten verteidigt, der wird ausgeschlossen, geächtet, als asozial beschimpft oder als rechts. Um einen Buchtitel Scholl-Latours zu zitieren: meine Welt war aus den Fugen. Da ich sie nicht aufgeben wollte und die Moral auf meiner Seite glaubte, verteidige ich den alten, seit Ewigkeiten geltenden Lehrsatz, aber der Gegenlauf war brutal und ich am Ende mit allen zerstritten in völliger Isolation. Haushofers Wand ist ein Dreck dagegen, jawohl. Orwell und Huxley sind mir so nahe gekommen, daß mich der Schauder überwätigt, GEHT WEG!, schreie ich ihnen zu, aber sie haben einfach grinsend neben mir Platz genommen. Die grausame Ohnmacht in Kombination mit der plötzlichen Unwirksamkeit all meiner Leitbilder und Tugenden, der blitzartige Reset von Fakten, das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, mehr als alle Todesfälle in der Familie zusammen. Wenn folglich nichts verbindlich ist, nicht einmal Gleichungen wie das simple 1 + 1, woran soll man noch glauben, wie hoffen und vor allem: handeln?

Als in Japan einst die Samurei an die Macht gelangten, war es den Kaufleuten verboten, sich prächtig zu gewanden und Status (oder auch nur Geschmack) zu demonstrieren. Sie fügten sich den Repressionen der Zeit und trugen Grau oder Braun, so genau weiß ich das nicht mehr, schlichte, unauffällige Textilien jedenfalls. Und das unsichtbare Innenfutter dieser aufoktroyierten Bescheidenheit, das leuchtete in herrlichsten Farben, prangte in exquisiten Mustern, war aus kostbarster, herrlichster, edelster Seide gewebt… Den Samurei war dieser Umstand bekannt – beide Parteien einigten sich stillschweigend auf jenes Arrangement. Sich zu arrangieren, das muß ich lernen, ich muß es!, will ich überleben. 1 + 1 = 3, akzeptiere ich. Auf die Haut tatöwiert die alte Wahrheit (im Übertragenen, bitte schön, keine Gerüchte).

Denn als ich einmal in tiefster Verweiflung durch den Wald strich (vgl. Beitrag XXX), die ewig gleichen Monologe wälzend, aufgefressen von Wut, Bitterkeit, Verzweiflung, da blieb ich stehen, aprubt, und erkannte: die Wahrheit ist da, ist da, sie ist. Nichts und niemand kann daran rütteln – ich rede nicht von meiner Wahrheit, ich rede von der echten, der unumstößlichen Wahrheit, und allein daß diese existierte, irgendwo da draußen im Weltall, unanfechtbar, diese Erkenntnis war der erste Schritt in die Rettung. Wir können uns anschreien, beschuldigen, verletzen, beleidigen, wir können Fronten aufbauen, wir können verbiegen, verdrehen, neue Vereinbarungen treffen und neue Gültigkeiten kreieren, wir können aus der Sonne den Mond machen, wenn es gerade recht ist, und den Mond zum Fußball, freilich können wir das, wir tun es ja, und vielleicht wird es auf immer in den Geschichtsbüchern so drinstehen und der Nachwelt über Generationen erhalten bleiben und vielleicht wird nie, nie jemand, auch in Jahrtausenden nicht, darauf stoßen, daß es doch eigentlich 1 + 1 = 2 hätte heißen müssen, aber das ist gar nicht mehr wichtig, denn es zählt einzig und allein: die Wahrheit, sie existiert. Dafür bin ich demütigst dankbar.

Schreiben, Ciao! Heißt das nicht auch: wie geht´s? Ciao! Mein Reset ist Schwarz/Weiß/Beigegelb.

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