207 Wohin mit übrig gebliebenen Fragen

207 Wohin mit übrig gebliebenen Fragen

München, Mai 2022.

Ich hatte ihr Fragen gestellt, war vertröstet worden auf die Unendlichkeit. Wie genau war das mit Ruppie, wo sah sie das Reh zum ersten Mal, wann entwickelte sich die enge Bindung? War es nicht ein verletztes Kitz gewesen, das sie aufgepäppelt hatte? Warum hast du deine achtzig Seiten lange Geschichte über euch zwei vernichtet? Ich hätte sie so gerne lesend erfahren. Fragen, nichts als Fragen: weshalb wolltest du nicht wie vom Vater gewunschen auf die Kunstgewerbeschule? Wie lief deine Auswanderung ab, du warst so jung, hat dir jemand geholfen, etwa bei der Erledigung von Behördengängen? Auf der Überfahrt nach Kanada hast du Onkel R kennengelernt – was hat dich fasziniert an ihm? Du warst hübsch und apart und klug, du hättest so viele andere haben können! Was hast du für deine Geschwister empfunden, deine Eltern, die Heimat? Wie seid ihr von Kanada in den USA gelandet, wie an die Ranch gekommen, mit welchem Geld? Wo war euer Restaurant gestanden, woher nahmt ihr die Idee, koscher zu kochen für die Juden? Welche Gerichte habt ihr serviert, wie kamt ihr an die Rezepte, die Zutaten? Wie schaute das Lokal aus, gab es Außenbereiche, Tischdekoration, Leinentücher, Blumen? Warum wolltet ihr keine Kinder? Wann bist du dick geworden, fettleibig, wie hast du dich gefühlt damit? Erzähl mir mehr von deinen Tieren, deinem Garten! Katzen, Gänse, Truthühner, Ziegen, Auberginen, Zucchini, der riesige Pecanußbaum am Haupthaus. Welche Reisen außer den Flitterwochen nach Costa Rica habt ihr unternommen? Eure beliebte, “deutsche Weihnacht” im großen Kreis, wann fingt ihr an damit? Und der Impuls, zu töpfern, überhaupt Kunstkurse zu belegen, wie ging das los? Welche Künstler außer Cocteau hast du verehrt, wie oft das Museum in Houston besucht? Welches war deine Lieblingsfarbe, blau, rot? Wieviele dutzend selbst gebundene Art Journals hast du erstellt und gefüllt? Was ist mit deinem Waterman-Füller geschehen, der türkisen Tinte, dem gelben, gepunkteten Halstuch, den Chanel Lippenstiften und Parfüms (Singular, das große und eine “Numéro Cinq”), mit all deinen Bildern, Zeichnungen, bemalten Eiern, Briefen, Skizzen, Keramiken? Was ist mit den Sachen passiert, die ich dir im Laufe der Zeit liebevoll zugedacht hatte, das Bauhäuslerinnenbuch, der Porzellanbildband, die Kunstabhandlungen, die meisterliche Teekanne mit den nephritgrün glasierten Kügelchen, die Seifenschale vom Töpfermarkt? Hat das Monster es weggeworfen, nun da es in einer winzigen Citywohnung haust? Eure schöne, schöne Ranch, an wen hat der Raffgierige sie verschachert, tatsächlich an die Fracking-Firma, der Vernichtung ausgeliefert? Tante, bitte sag ehrlich, wie lange schon hast du von deiner Krankheit gewußt? War dir damals klar gewesen am Flughafen im Jahr 2011, daß wir uns das allerletzte Mal gesehen hatten? Wie lange hast du mit dem Tod gerungen, vier volle Tage, wie der Manipulator sagt? Wolltest du mich sprechen, mir Adieu sagen, oder konntest du es gar nicht vor Schmerz? Hättest du dir gewunschen, daß ich in die USA fliege (was durch die Corona-Fehl-Hysterie nicht möglich gewesen war)? Warum hast du mich denn früher nie eingeladen? Habe ich dir etwas bedeutet? Konntest du die Dinge in deinem Leben abschließen? Liebe, geliebte Tante Annelies, heute vermisse ich dich ganz fürchterlich. Angeblich ließest du ausrichten, ich solle meinen Träumen folgen. Liebe Tante Annelies. Ich möchte dir so gerne schreiben. Aber du bist tot. Genau wie Oma, Schwester, Onkel H. Heute tut es weh, an die Toten zu denken, doch es muß sein, es gehört dazu. Liebe Tante Annelies, es ist schön, daß es dich gegeben hat. Diesen Satz wird über mich nie jemand schreiben. Das ist in Ordnung, es ist, wie es ist. Wenn du den Garten sehen könntest… Du wärst restlos entzückt. Ich spreche zu dir, denke an dich. Im Garten ist Frieden.

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