204 Es hat gepaßt, danke
München, Januar 2022.
– Entschleunigen, Me-Time, Self-Care, eine Wohnhöhle schaffen, reflektieren, neue Werte setzen, sich aktiv um die eigene Gesundheit kümmern und in Achtsamkeit üben, nachhaltige Konsumentscheidungen treffen, dies alles wird gesellschaftlich empfohlen, beinahe propagiert in Dauerschleife, zwei Jahre lang nun schon. Und die Leute sind beschäftigt – für den Rest gibt es Netflix.
Was aber bitte schön ist mit den anderen? Denjenigen, die seit zwanzig Jahren Sachbücher und Ratgeber zum Thema Körper, Physiologie, Ernährung, Bewegung gelesen und danach gelebt haben? Die ihre Wohnung schon vor Covidrestriktionen gemalert, tapeziert, möbliert haben mit Konzept (Farbwirkung, Feng Shui, minimale Schadstoffemission)? Sich den Kopf zerbrochen über moralische Ziele, Herzensthemen, Ökologie, quasi wörtlich über Gott und die Welt nachgedacht, wieder und wieder? Sich täglich gefragt: wer bin ich, was möchte ich, wie kann ich mich einbringen, wo was verändern zum Besseren hin für mich, für alle?
– Man habe ja noch die Möglichkeit, zu heiraten, Familie zu gründen und ein Haus zu bauen.
Was ist mit denen, die das nicht brauchen, wünschen, können?
– Dann ließe es sich desweiteren mit dem Unausweichlichen konfrontieren, indem man die Sterblichkeit anerkenne, akzeptiere, oder zumindest den Tod – die Ahnung davon – ertragen lerne. Den der Nächsten, Lieben, den eigenen.
Der Tod kommt, wann er will und nimmt sich, was er will, und das zu leugnen, ist Energieverschwendung.
Wenn ihr also Gefallen findet an der Jahre andauernden Zwangspause, dann schlicht deshalb, weil ihr davor ein Leben geführt habt, das nicht zu euch paßte.
Mein Leben aber hat mir gepaßt (ohne perfekt zu sein)! Ich werde langsam wahnsinnig in diesem aufoktroyierten Gefängnis des Auf-sich-Selbst-Zurückgeworfen-Seins. Ich lese weiterhin, bleibe tätig im mir möglichen Umfang, pflanze Bäume, Sträucher, Stauden, bis der Garten platzt, pflege mein zu Hause und versorge die Tiere neben der Arbeit. Die Enge ist bald unerträglich.
Ich rieche die Hyazinthen, wie sie nur Ende Januar und Februar duften, dunkelblaue Hyazinthen, hell gestreift; Seit Jean-Claude Ellena weiß ich, daß in der Parfümerie die Stoffe Phenylethylalkohol, Benzylacetat, Galbanum und Indol (zur Imitation der vollen Blüte) bzw. Cis-3-Hexenol (für die Nachahmung der Knospe) verwendet werden, um dieses olfaktorische Erlebnis abzubilden. Himmel, bis in die mir eigentlich verhaßte Chemie treibt mich der geistige Stillstand der äußeren Welt! Ellena, rationaler Akteur und Poet zugleich, sagt: “Für mich muß ein Parfüm in die Nase flüstern, sich an das Intimste richten, sich mit dem Denken verbinden. (…) Ich biete Parfüms an, die zu teilen sind, Parfüm-Romane, Parfüm-Novellen, Parfüm-Gedichte.”
Und es sind die Worte Ellenas, es sind die durch die Wohnung ziehenden Schwaden der blauen Januar-Hyazinthen, die mir noch einmal die Brust weiten und den Geist klären.