203 Lost Place

203 Lost Place

Grafenwöhr, Dezember 2021.

Das Elektroauto auf der Hügelkuppe mutete in dieser Gegend an wie ein vom Himmelszelt gestürztes, gestrandetes Raumschiff, völlig fehl, ein Science Fiction – Gruß. Die Altstadt hatte verlassen dagelegen, wörtlich, viele der Fachwerkhäuser waren – vielleicht aufgrund von Denkmalschutzauflagen – seit längerem verwaist, traurige Überbleibsel einer einst blühenden Vergangenheit; den wenigen Geschäften, spärlich erleuchtet, ermangelte es an Kunden. Weil es der vorletzte Tag des Jahres war? Der Restriktionen wegen? Ein Laden zeigte eine komplett Ruß verschmierte Fassade, der man auf Anhieb ansah, mit welcher Wucht das Feuer gewütet haben mußte. Die Ortschaft wirkte wie von einer Schockstarre ergriffen, wir durchfuhren sie im Schrittempo, väterliche Heimat; ob es das Sterne-Restaurant noch geben mochte?

Meine gesamte Kindheit begleiteten sie mich, die Geschichten aus seiner frühesten Jugendzeit, den 50er Jahren, Geschichten voller Armut, Abenteuer, frecher Bubenstreiche, Nachkriegsgeschichten einer schlesischen Flüchtlingsfamilie, die unter vielen solchen in einem Barackendorf mitten in der Pampa gehaust hatte, verachtet, verstoßen, ungewollt, eine eigene, eingeschworene, auch verschrobene Gemeinschaft bildend. Geschichten voller Wirklichkeiten und Leben, Geschichten eines verschwundenen Dorfes, über welches inzwischen nicht einmal kaum mehr die amerikanischen Panzer hinwegrumpeln.

Die Autotür klackte dumpf in der grautrüben Stille. Wir näherten uns einer Umfriedung, das “Betreten verboten”-Schild ignorierend, auf einen metallenen Zaun zuschlendernd, der beim letzten Besuch noch nicht vorhanden gewesen war. Die beiden Fellbündel dahinter hoben angestrengt witternd die Schnauze, von Kopf bis Fuß drohend angespannt: anatolische Hirtenhunde, in der Türkei als wild und wütend bekannt und gefürchtet, auch diese beiden kamen geifernd-bellend angerannt, Rückzug. Ich entdeckte einen versteckten, schmalen, Matsch schlürfenden Trampelpfad, den dutzende Rehhufe erschaffen hatten, in weitem Bogen den Metallzaun umgehend, ein Schleichweg, dem wir folgten durch Dornengestrüpp und welkes, bordeauxrotes Brombeerlaub. Ausgetrickst!

Und wieder Schilder: Militärgelände. Grubengelände. Einsturzgefahr, blabla, schon recht. Die Gegend war menschenleer, sanft geschwungen, von falbenfarbenen Graswiesen bestanden, die in der Ferne zu einer Wand anstiegen, die eigentümlich grün leuchtete: um welche Sträucher mochte es sich handeln, nun, mitten im Winter? Ich kniff die Augen zusammen, rätselnd spähend. Kiefern wuchsen, kahle Laubbäume, Linden und Pappeln. Vom Barackendorf ist fast nichts übrig geblieben als ein sich von der Natur einverleibtes, äußerst vages Relikt, das meine archäologische Neugierde weckte und der Fatasie einiges abverlangte. Üppige Felsbrocken. Gelegentlich noch Partien dicker Mauern bildend, eingestürzt, von Moosen überzogen. Ein verrostetes, eisernes Fensterkreuz, die ehemalige Schenke, einst gesellschaftlicher Mittelpunkt. Als einziges nennenswert erhalten ein christliches Marterl, dessen Steinsäule ich mindestens ins 16. Jahrhundert, eher früher, datieren würde, davor aufgestellt eine primitive aber deutlich gepflegte Ruhebank. Irgendjemand suchte es also noch auf, das uralte Gebetsstättchen.

Wir folgten den Panzerspuren des riesigen Truppenübungsplatzareals, Vatis Anekdoten lauschend, eher amüsierte Monologe, nostalgische Schwelgereien, Überlebenskämpfe romantisierend, die steiler werdende Landschaft hinauf, die immer stärker einer weiten Heide ähnelte. Das Geheimnis um das vermeintlich Laub tragende Gebüsch löste sich auf: es handelte sich um Massen an weißgräulich-lind-pistaziengrünen Rentierflechten, die die Äste und Zweige einem Mantel gleich zottig umhüllten. Viele waren abgefallen und auf dem schlammig aufgewühlten Boden verstreut. Sie fühlten sich weich an zwischen den Fingern, gummiartig, glatt, zäh, gekräuselte Rüschen von verblüffender Lebendigkeit. Ein unbestimmter Wind trieb Nebelfetzen vor sich her, die herumwirbelten und lautlos an der Kuppe zerplatzten.

Ein rosa Zeitungsblatt ruhte weggeworfen im Unterholzdickicht; als ich es etwas mühsam herauszupfte, bemerkte ich, daß es sich tatsächlich um Plastik handelte, eine Tütenverpackung. Creamy Spinach Fettuccine, las ich den Aufdruck. Und darunter: Provided by the US government. Ich schaute um mich, schweifte mit dem Blick über verblichene Gräser, grelle Moose, knorrige Kiefern. Creamy Spinach Fettuccine, hier, das war wie der Tesla bei den Anatolischen Hirtenhunden: surreal. Ich lächelte, denn ich mag sie, die Brüche in der Wirklichkeit, die Raum schaffen für neues, andersartiges.

 

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