202, Teil VI: Geistergrüße
Italien, November 2021.
Napoleon Bonaparte verdankte ich meinen venezianischen Garten. Königlich hieß er, was zumindest auf die Größe nicht zutraf, ein gußeiserner Laubengang, dicht bewachsen mit exotischen Ranken, darunter märchenhafte, rosa Trompetenblume, bildete das Rückrat der Anlage, flankiert von je einer weiteren breiten Allee, mehr war es nicht, brauchte es nicht. Auf dichtesten Raum hatte man in rhythmischem Muster unzählige Arten gesetzt, versteckt direkt hinter der Promenade am Markusplatz, die zugekleistert war mit Ramschkiosken, überquellend vor schrecklichsten, geschmacklosen Souvenirs, beseelt von Unruhe und hektischer Spannung. Den Garten vermutete man überhaupt nicht an dieser Stelle, er war kaum einzusehen, bloß ein paar Wipfel erspähte man von außerhalb, die Neugierde mußte einen antreiben, die Entdeckerfreue, das Smaragd einen locken. Sobald man durch das Tor geschritten war, passierte etwas ganz und gar erstaunliches: ein Frieden ergriff einen! Die anwesenden Besucher plauderten gedämmt, es roch nach Erde und Vegetation. Üppige Hortensienkugeln bildeten malerische Horste, Rosensträucher ungewöhnlicher Sorte fügten sich ein, General irgendetwas, warum habe ich mir das nicht gemerkt?, einfache, plissierte rosa-violette Blütenköpfe voller Stolz und Frohgemut. Bäumchen, Büsche, Aralien formten einen Ort voller Beschaulichkeit und Zauber, irgendwie pariserisch dünkte es mir, spielende Kinder, Alte, die die Tauben fütterten. Versteckt an der rückseitigen Linie der Anlage wieder aufwendige Schmiedearbeiten, Schnörkel, ein Geländer, das einen Kanal abzäunte, und darin schaukelnd, was sonst, vertäute Gondeln, denen ferne Jahrhunderte anhafteten. Napoleons Vermächtnis zog mich zwei Mal an, ein Foto schoß ich nie. Ich genoß das Schauen und Sein, die Gerüche, das Grün, die Ruhe im Herzen Venedigs.
Die Guidecca streiften wir. Am Ende einer Gasse, die in einen privaten Pier mündete, erhob sich ein einst wohlhabendes Anwesen, inzwischen vermutlich sich selbst überlassen. Hohe, ockergelb getünchte Mauern, ein Torbogen, dahinter: Kronen, etliche, stattlich gewachsene Baumkronen, alte, mächtige Exemplare, Kiefern darunter, Laubtragende. Ein weitläufiger Park, einst Adelsbesitz. Ich stellte mir die Feste dort vor, die Galaempfänge, ja, ich bildete mir ein, dies sei die Heimstatt der Luisa Casati gewesen (vgl. Beitrag 136), ich sah sie vor mir, die ausschweifenden Kostümbälle, die Menagerie, die Affen und Raubkatzen. Ich sah die Contessa mit den glühend schwarzen Augen, wie sie hier nackt entlangflanierte, an der Leine den Geparden. Vermutlich hat sie nicht auf der Guidecca residiert, sondert irgendwo nahe der Guggenheims, aber es machte mir Spaß, die Szenen und Filme heraufzubeschwören, die mir die unerreichbaren Baumwipfel zuflüsterten.