201, Teil V: Grau in Grau

201, Teil V: Grau in Grau

Italien, November 2021.

Grau in Grau standen die leergefegten Gassen, kein Vergleich zu den grell bunt gestrichenen Häusern Buranos, die in der Heiterkeit der Sonne gegiggelt und gelacht hatten, übertriebene Farben in Magenta, Lila, Krachblau, Neongrün, Schreigelb tragend, extreme Töne als Besuchermagnet, Touristen, die maschinelle Chinaspitze kauften für ein Butterbrot und glaubten, authentische italienische Handarbeit erworben zu haben; man wundert sich zuweilen über so viel Naivität und wünschte ihnen, ein einziges Mal zu versuchen, auch nur das Garn durch das Nadelöhr zu pulen, dann hätten sie vielleicht eine Vorstellung davon, was Handarbeit so allgemein bedeuten möge… Aber es war das Licht gewesen, die mediterrane Helle und Fröhlichkeit, das Glitzern des Wassers, die ausgelassene Stimmung der Menschen in den Lokalen, Geschäften, Straßen, die ein Sinnbild italienischen Urlaubes wiedergaben. Das Grau in Grau einige Tage darauf paßte nicht in diese Vorstellungswelt. Es tröpfelte. Unmut machte sich breit, ich freute mich auf die Gärten, das Bienalearenal, wollte mich bewegen, dann würde es wärmer und weniger ungemütlich. Stattdessen der mehrheitliche Beschluß: zurück ins Hotel! – Zurück ins Hotel? Wir hatten dort spät und ausgiebig gefrühstückt, ewig lange für meine Verhältnisse, und es quasi erst vor kaum dreißig Minuten verlassen. Zurück ins Hotel? Weil es tröpfelte? Ich dachte an den Monsun. Den Matsch. Die allumfassende Feuchtigkeit, die einen bis auf die Unterwäsche (trotz Hightech-Funktionsbekleidung) durchnäßt hatte. Die Blutegel, tausende davon (vgl. Beiträge 16-21). – Das Hotel war hübsch und angenehm, einen Salon wies es auf mit gediegenem Mobiliar und zwei prächtigen, farbglasigen Murano-Leuchtern, Ambiente, ohne Zweifel; sogar in der Gardinenreflexion auf dem Wannenhahn hatte ich ein Fotomotiv entdeckt, das mich bestimmt eine Viertelstunde beschäftigt gehalten hatte zwischendurch. Aber ich reiste doch gewiß nicht erstmals seit 15 Monaten, um meine Venedig-Zeit in einem Hotel zu verbringen…!

Unna teilte meine Ansicht. Unter Murren trennten wir uns von den anderen (solch ein Schwachsinn an Gruppenzwang), probierten es im Café Florian am Markusplatz, keine Chance, proppenvoll, die Schlange reihte sich bis weit nach draußen. Dann eben zu Harry´s Bar, einige hundert Meter weiter, Unna hatte den gleichen Roman der Autorin Jana Revedin gelesen, der unter anderem die Gründung des weltberühmten Etablissements schildert. Ich persönlich fand das Buch eher mau, Unna hatte es begeistert; jedenfalls zogen wir die schwere Tür auf, verhandelten mit dem Personal, weil ich keine Testpapiere mit mir führte, wurden schließlich aufgefordert, uns am Tresen einzufinden, die Tische seien uns nicht erlaubt, der Tresen schon, ich kuckte doof, das sei eben so, sagte die Bedienung, das so “by law”. Wir kletterten auf die hohen Hocker. Alles war sehr stilvoll, die Angestellten weiß livriert, der Barkeeper, ein älterer Mann von zurückhaltender Noblesse, trug nonchalent eine Rolex am Handgelenk, die leicht klimperte, wenn er einen Drink zusammenmixte oder Orangen auspreßte. Die Uhr zeigte kaum elf vormittags, wir bestellten Champagner und Bellini, zu welchen Fischcremehäppchen serviert wurden (die ich Unna überließ). Die Kameras hatten wir auf den Boden gelegt. Ein Kellner huschte herbei, bückte sich flugs, hob die Geräte auf, als bestünden sie aus Goldkristallen, sie übervorsichtig auf dem schmalen, glänzend polierten Tresen drapierend, damit den edlen Apparaten ja nichts passiere, wie er mehrfach betonte. Mir waren die fetten Kameras mit den angeschraubten, megagroßen Objekten in totaler Sichtweite aller Gäste eher peinlich… Aufgeregt stupste Unna mich mit dem Ellbogen an, der Herr da, da, der Herr! Das sei er! Höchstpersönlich! Ich begriff den Aufruhr nicht. Ob ich denn nun den Roman gelesen hätte oder nicht? Ich muß sie recht dumm angeblickt haben. Der Inhaber! Tatsächlich signierte jemand ein Buch. Schmal, in einen leger geschnittenen, marineblauen Anzug gewandet, ein Einstecktuch im Sacko. Die Haare frisiert, gekämmt, grau gescheitelte Wellen, um die achtzig. Er lachte. War guter Laune, heiter, schäkerte. Ein Mensch, der zufrieden war, der viel geschaffen hatte und gesehen. Das beeindruckte mich. Unna freute sich riesig; bestimmt elf Mal sei sie bisher in Venedig gewesen, aber Arrigio Cipriani, den habe sie noch nicht live erlebt. Ich freute mich für sie, daß sie sich so freute.

Mit dem Vaporetto dröhnten wir durch das Grau. Die Baum bestandenen Giardini zogen vorüber, schwermütig-sehnsuchtsvoll verabschiedete ich mich von dem Gedanken, sie zu durchstreifen. Wie kann man ein Leben ohne Grün ertragen?! Es bleibt mir ein Rätsel. Wir landeten an. Plötzlich wirkte die Umgebung ganz anders, es fanden sich richtige Straßen, die von Bussen und PKW befahren wurden, Asphalt, Beton, relative Weite und vor allem: Geradlinigkeit. Kaum mehr Palazzi, imposante Prunkarchitektur, von einzelnen Ausnahmen nicht gesprochen, darunter einige Grand Hotels, die anachronistisch wirkten: Die meisten Leute heute wissen nichts von Eleganz und Stil und vermissen beides auch nicht, sind nicht bereit, entsprechend zu bezahlen, und so verwahrlosen und leiden solche Einrichtungen, im unaufhaltsamen Niedergang begriffen. Die Heilkraft der Schönheit, des Besonderen und Ausgesuchten lassen die Menschen ungenutzt, das exklusive, vor etlichen Jahren aufgegebene Hotel des Bains starrte uns triste wie nutzlos entegegen. Unna hatte mich also zum Lido geführt. Ihren feinen Lederschuhen wollte sie den Untergrund nicht zumuten, so ging ich den Rest allein.

Das Gefühl, wenn Schritte im Sand versinken; eine niedrige Düne erklomm ich, dann stand ich da, inmitten von angespülten Tanggebilden und winzigen Muschelschalen, stand auf dem Strand, ein ewig breites, von Menschen bereinigtes Band, von grimmenden Wolkenbänken gesäumt, an deren Rändern vanillefarbene Lichtschlieren gepinnt waren. Da waren ein Wind, eine Brandung, viel Himmel – da war das Meer. Eine kleine, unscheinbare Adria, die mir über die schwarzen Hunter Boots schwappte. November 2019, Portugal, Nazaré (vgl. die Beiträge 118-120), ganze zwei Jahre, zwei verdammte Jahre!, hatten wir uns nicht gesehen, auch jetzt waren mir nur etwa zehn Minuen vergönnt, Speed Dating, Blitzrendezvous, zwei Jahre ohne jede maritime Verbindung. Ich jedoch stand eine Sekude lang dort, am Meer, und wurde ganz. Ob es mein Urgroßvater ist, den ich nie hatte kennengelernt? Jener englische Seefahrer, dem die Urgroßmutter mütterlicherseits ein uneheliches Kind gebar? Der britische Seemann Bradbury, steckt sein Erbe in mir? Ich atmete tief, blickte tief, ließ das Meer in mich fließen, tiefer als tief, so tief, daß kein Wort existiert dafür. Ich dachte an all die Strände und Küstensäume, die ich betreten hatte und daran, daß ich nirgends so kurz verweilt war wie hier nun, und doch genügte es. Ist es nicht schön, sagen zu können: es genügt?

Manche der anderen später neideten uns den Ausflug zum Lido. Grau in Grau blieb es übrigens an diesem Tag, getröpfelt (oder geregnet) hatte es nicht mehr.

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