176 Aus der Zeit gefallen
München, Juli 2021.
Das trocken knisternde, goldene Stroh lag so dick aufgeschichtet, daß ich es mit den Zehen durch die Flipflops hindurch spüren konnte. Die Sonne brannte nieder vom sommerblauen Himmel. Eine Frucht nach der anderen stopfte ich mir in den Mund, die silbern glänzende Metallschüssel war bereits randvoll angefüllt, es sollten auf der Kassenwaage später zwei Kilo ergeben. Gut zwanzig Jahre lang mochte es her gewesen sein, daß ich zuletzt auf einem Feld wie diesem gestanden hatte, um mir mein Obst zu pflücken… “Was haben wir denn da??” rief eine korpulente Frau plötzlich aus, dabei ein Kind wild in die Höhe lüpfend, das zur grünen Hose ein rotes Ringelshirt trug. Sie biß es herzhaft in die Wangen. “Oh! Noch eine Erdbeere! Da ist ja noch eine Erdbeere, hmmmmmm, wie köstlich!” Der Bub quiekte vor Vergnügen.
Aus der Zeit gefallen.
Der Fluß schäumte laut rauschend über die Schwellen, ehe er sich wieder in einem schlammgrünen Glitzern verlor. Die Ufer quollen über vor saftigen Weiden, Ahornbäumen, Birken, Berberitzengestrüpp. Der Stein des Dammes unter mir war erwärmt vom harten, grellen Licht, mein Blut träge geworden und schläfrig. Gräser kitzelten mir über die ausgestreckten Arme, blaulila Salbei wogte zum krautigen Duft des heraufwehenden Wassers, der Hund neben mir schnarchte wohlig. Ich beobachtete mit halb geschlossenen Lidern die Schwalben im Flug, wie sie ihre betörende Sichelakrobatik aufführten, einander in Zirkeln jagten, dort droben, spielerisch flink, mühelos wendig. Gelegentlich sausten Radler rumpelnd vorüber, mich nicht weiter beachtend.
Aus der Zeit gefallen.
Mit dem Geschmack von Cappuccino auf dem Gaumen folgte ich den anderen über den Rasen-Flugplatz. Zu neunt – zehn mit dem Piloten – nahmen wir Platz in der alten Propellermaschine, die Wände gewelltes Metall, die durchgesessenen, gepflegten Sitze cognacledern. Ein kurzes Holpern, ein ordentliches Dröhnen, schon hatten wir den Boden hinter uns gelassen. Angst verspürte ich merkwürdigerweise nicht, mein Blick stromerte Mosaiken aus Grün-, Sand- und Gelbnuancen entlang, ein Flickenteppich aus bestellten und brachen Äckern, Wäldern, Ortschaften. Langgezogene blau-graue Tupfen: Ammersee, Starnbergersee. Die weißen Kuppeln der ehemaligen Erdfunkstelle in Raisting, über die wir eine extra Schleife drehten. Dahinter eine düster-fahle Regenwand, eine diffuse Undurchsichtigkeit, in welcher ich die Berge versteckt wußte.
Aus der Zeit gefallen.
365 Tage lang atmest du nicht mehr. Ein Jahr ohne Nachricht von dir, zwölf Monate ohne Briefe an dich.
Wohin bist du gegangen? Hast du mich noch lieb, dort wo du bist?